Theater„Gretchen 89 ff“: Über die Scharmützel hinter dem roten Vorhang

Theater / „Gretchen 89 ff“: Über die Scharmützel hinter dem roten Vorhang
Bei der vorzüglich gelungenen Inszenierung im Escher Theater führte Daniel Texter Regie. Die Regieassistenz übernahm Mahlia Theismann. Foto: NC

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Mit viel Schwung und Humor gewährt „Gretchen 89 ff“ dem Publikum Einblicke in den kruden Theater-Alltag.

Als Welt im Kleinen spiegelt das Theater den ganzen wunderbaren Irrsinn, den wir jeden Tag im Umgang mit anderen Menschen erleben. Während der Proben begegnen sich Egomanen erster Güte und postpubertäre Fußabtreter, brunftige Psychoanalytiker und verkopfte Theoretiker, hartgesottene Profis und dauerbeleidigte Starletts auf Konfrontationskurs. Die Figuren, die das bunte Kuriositätenkabinett hinter den Kulissen bevölkern, rangeln sich mit fast beneidenswerter Leidenschaft.  Warum? Weil sie (fast) alle der festen Überzeugung sind, im Besitz des heiligen Grals des Theater-Olymps zu sein, sprich als einziger oder einzige die Antwort auf die alles bestimmende Frage zu kennen: Wie spielt man ein Stück, „so wie es wirklich ist“?

„Wirklich sein“ – was bedeutet das? Ist eine Inszenierung dann gelungen, wenn sie der Vision des Autors gleichkommt? Oder soll sie den Vorstellungen des Regisseurs entsprechen? Was ist mit den Schauspielern, die die Figuren verkörpern, soll die Darstellung nicht in erster Linie ihren Erwartungen gerecht werden? Wo kommt da das Publikum ins Spiel? Schließlich muss man, wenn man in der Branche Erfolg haben will, den Geschmack der Zuschauer treffen.

Zankapfel Kästchen-Szene

Aus dieser unübersichtlichen Gemengelage zaubert der für sein Jugendstück „Das Herz eines Boxers“ bekannte Dramatiker Lutz Hübner ein urkomisches Stück, das sich um die ganz ins Konkrete überführte Frage nach dem Wahrheitsgehalt und den mimetischen Charakter des Theaters dreht. Um es aber gleich vorauszuschicken: Keine der im Stück dargestellten Perspektiven erweist sich als der Weisheit letzter Schluss; keine einzige „Wirklichkeit“ liefert den legitimen Maßstab für die Theaterdarbietung. Vielmehr macht der Wust an Perspektiven und Meinungen das Theater zu einer lebendigen Kampfarena und einem authentischen, kreativen Ideenhort – in der Ungelöstheit der zentralen Fragestellung liegt also ihre eigentliche Wirklichkeitsnähe.

Auf Handlungsebene wird die Szene aus Goethes Faust, in der Gretchen das verhängnisvolle Schmuckkästchen findet, wieder und wieder abgespult – mit immer neuen Figuren-Zweierkombos, die aus einem Schauspieler bzw. einer Schauspielerin (Luc Feit) und einem Regisseur (Steve Karier) bestehen. Wie schon in „Das Herz eines Boxers“ liefert sich das auf der Bühne stehende Duo einen pfiffigen Schlagabtausch, bei dem jeder versucht, seinen eigenen Willen durchzusetzen und die Interpretationsmacht über die zu spielende Kästchen-Szene zu erhalten. Dabei wird schnell klar, dass es kaum um die Sache selbst geht, sondern um Machtspielchen und rücksichtslose Egotrips – da unterscheidet sich die Institution des Theaters nicht von der restlichen Welt. Genau dieser Wiedererkennungswert von Dynamiken und Figuren verhindert, dass „Gretchen 89 ff“ zu einer in der Theatersphäre verhafteten Nabelschau wird; seine Aussagen reichen über den Tellerrand des Künstlerkosmos hinaus.

„Gretchen 89 ff“ verdankt ein Großteil seines Charmes der exzellenten Figurenzeichnung, die ulkig-typenhaft ist und sich doch herrlich gut an die Realität anschmiegt. Die dargestellten Typen werden vor jeder neuen Szene angekündigt, so trifft man u.a. auf den Freudianer, die Diva, die Rokoko-Kokotte oder den Hospitanten als einer der „Gerechten“. Sie alle sind schrullig, überzeichnet und doch auf brillante Weise wirklichkeitsgetreu. Ihre Lebensnähe ist natürlich auch das Verdienst der beiden Schauspieler, die mit gehörigem Tempo und einer auf Erfahrung gründenden Trittsicherheit durch die Szenen brausen.

Letztlich beweist die amüsant-bissige Typenlehre, dass das Theater ein ganz wundersamer Ort ist: Showroom großer Ideale und Haifischbecken, Elfenbeinturm und sprühender Möglichkeitsraum. Was sich seine Bewohner aber vielleicht auf die Fahne schreiben sollten: Man täte gut daran, sich nicht allzu ernst zu nehmen.