Lust zu lesen / Fabelhafte Melancholie
Ein Buch mit vielen Zeichnungen und einigen Untertiteln. Und doch keine illustrierte Erzählung, sondern ein Bild/Text-Konglomerat, das wie eine Art Roman funktioniert und gemeinhin unter dem Begriff „Graphic Novel“ firmiert. Thomas Koppenhagen über eine ungewöhnliche Veröffentlichung.
Fabio Viscogliosi ist ein französischer Musiker, Maler und Autor. Das 1965 als Sohn italienischer Einwanderer in Oullins bei Lyon geborene Multitalent veröffentlichte in den 2000er Jahren zwei Musikalben auf dem kleinen Independent-Label Microbe und mehrere Bücher. Regelmäßige Ausstellungen folgten. Seit zwei Jahren ist Viscogliosi wieder als Solist unterwegs. Mit „Kaskade“ wird erstmals eines seiner Bücher in deutscher Sprache publiziert, und es kann durchaus im Zusammenhang mit seiner bislang letzten LP „Camera“ (2020) betrachtet werden. Denn recht ähnlich wie in der Musik wirken auch in seiner „Graphic Novel“ einfache Elemente, die sozusagen in mehreren Lagen übereinander gelegt bzw. aufeinander bezogen werden, schon beim zweiten Blick komplex und bleiben für verschiedene Interpretationen offen. Ganz eigen bei Viscogliosi ist auf jeden Fall ein Formenkanon, eine Fabelwelt, in der ein Esel ganz zentral steht.
In der Einleitung zum Anmerkungen-Apparat, der auf den Innenseiten der kartonierten Buchcover abgedruckt ist, plädiert Viscogliosi dafür, „sich einfach dem Mysterium hinzugeben, wie sich Formen und Objekte in unser Gedächtnis einprägen“. Die vom Autor/Zeichner bereitgestellten Bezüge weisen kaum über eine mittelprächtige popkulturelle Sozialisation hinaus: Bücher, Gemälde, Filme und Musik von Musil, Brecht, Picasso, de Chirico, Fellini, Rohmer, Pasolini, Dylan, Beatles, öfters Leonard Cohen, Velvet Underground … Lohnenswerter wird da schon die Bezugnahme auf den allerersten Satz, den der Ich-Erzähler in „Kaskade“ äußert: „Manchmal träume ich von einem pikaresken Roman.“ Darüber sieht man auf dem ersten von Viscogliosis „Panels“ den mit Hose und Jacke bekleideten Esel vom Buchcover einen Gebirgsweg hinauf schreiten.
Versuch einer Kontextualisierung
Nun verhält es sich so, dass in einem der berühmtesten pikaresken bzw. Schelmenromane der Weltliteratur, Cervantes „Don Quijote“ (1605 und 1615 in zwei Teilen erstmals erschienen), ebenso ein Esel eine tragende Rolle spielt. Und wenn man bedenkt, dass Cervantes Roman wiederum eine Wiederaufnahme von antiken Motiven aus Apuleius‘ „Metamorphosen oder der goldene Esel“ (um 170 n. Chr.) darstellt, sei bei einer derartigen Bezugsdichte die Frage erlaubt, weshalb sich Viscogliosi ausgerechnet den Esel aussuchte? Bei Cervantes nennt Sancho Panza seinen Esel, auf dem er als Schildknappe an der Seite des Ritters von der traurigen Gestalt eine Reihe absurder Abenteuer besteht, gelegentlich nur „Rucio“, also „grau meliert“ – als Synonym im Spanischen für Esel verwendet – mehr ist an Empathie für das Lasttier nicht drin. Ein zweites Beispiel aus Viscogliosis Buch zeigt seinen Ich-Erzähler erneut als Esel, dem schon als Kind beigebracht wurde, Kaffee zu kochen, was in dessen Familie eine „durchaus ernste Angelegenheit“ bedeutete. Doch nie war der Kaffee so, wie vom Vater erhofft. Stets „zu bitter, zu dünn, lauwarm. Sein Urteil fiel, und ich kam allmählich zu der Einsicht, dass die Zubereitung von Kaffee – wie jede andere menschliche Aktivität – dazu verdammt war, ein Versuch zu bleiben. Lobenswert zwar, aber ewig unvollkommen“.
Fabio Viscogliosi selbst hat sich bereits in mehreren Veröffentlichungen mit dem Schicksal seiner Eltern auseinandergesetzt. Aber man muss nicht unbedingt auf deren Tod bei der Brandkatastrophe am 24. März 1999 im Mont-Blanc-Tunnel verweisen, um diese subtile Tonlage zu begreifen und schätzen zu lernen, die „Kaskade“ wie auch seine übrigen Arbeiten durchzieht, und die man als eine ebenso sanfte wie allumfassende Melancholie bezeichnen kann.
Fabio Viscogliosi
„Kaskade“, Verlag bbb, Edition Moderne, Zürich 2020, 112 S., 32,00 €
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