Es war einmal … eine grausame Welt

Es war einmal … eine grausame Welt
(Nina Hegel)

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Diese Version von „Hänsel und Gretel“ ist zwar ein Märchen, das Ende ist aber weit weniger glücklich. Der Untertitel des Stücks „Trail of Crumbs“ sagt viel: „A Recurring Dystopia for Hansel & Gretel“.

Übersetzt bedeutet der Titel „Die Spur der Krümel: Eine wiederkehrende Dystopie für Hänsel und Gretel“. Eine Dystopie ist eine fiktionale, oft in der Zukunft spielende Geschichte, mit negativem Ausgang. In dieser Fassung werden Hänsel und Gretel durch Krieg gezwungen, ihr Haus zu verlassen. Sie verlieren sich im Wald. Gleich in der ersten Nacht wird Gretel von einem Unbekannten vergewaltigt. Um sie zu täuschen, hat dieser sie mit Brot zu sich gelockt. Die beiden Geschwister werden getrennt und fallen zwei feindlichen Armeen in die Arme, die sie als Kindersoldaten missbrauchen.
Mit Gewalt, hartem Training, Psychoterror, aber auch mit gespielter Zuneigung werden die beiden Kinder einer Gehirnwäsche unterzogen. Die Armee, der sie angehören, ersetzt ihnen die Familie. Sie sind bereit, für ihre neue Familie in den Krieg zu ziehen und zu töten. Am Ende töten sie sogar ihre Ausbilder, weil sie glauben, diese hätten sich vom wahren Glauben entfernt.

„Trail of Crumbs: A Recurring Dystopia for Hansel & Gretel“

Autoren: Isaac Bush und Anne Simon

Regie: Anne Simon

Bühne: Anne Allen Goelz

Kostüme: Holly Cain

Musik: Anthime Miller

Licht: Katy Atwell

Mit dem Ensemble des „The Circle Theater“ aus New York

Eine Koproduktion: Théâtre national du Luxembourg/Circle Theater of New York

Weitere Vorstellungen am 18., 19., 24., 25. und 30. Juni jeweils um 20 Uhr.

Das Stück ist in englischer Sprache.

Infos & Tickets: www.tnl.lu

In Folge ihrer Zeit bei ihren Armee verändern sich Hänsel und Gretel. Ihre Kindheit geht zwar nicht auf einen Schlag, aber auf Grund mehrerer Schläge verloren. „Wo ist der kleine Junge Hänsel geblieben?“, wird dieser einmal gefragt. Der sei vergangen und vergessen, antwortet er.

Das US-amerikanische Englisch der New Yorker Schauspieler ist für Nicht-Anglofone an einigen Stellen schwer zu verstehen. Das vermindert aber keinesfalls das Vergnügen, da die Regisseurin bei ihrer Inszenierung auf eine breite Palette von Regieelementen zurückgreift, anhand derer sie das Bedrohliche darstellt. Eine fast kontinuierlich zu hörende Cello-Musik sorgt für eine stetige Spannung, wozu sich manchmal ein Schlagzeug gesellt, das den militärischen Drill andeutet. In einigen Szenen wird wenig bis gar nicht gesprochen, sondern die Handlung in tänzerischer Mimik dargestellt, hin und wieder wird auch gesungen. Die Armeeausbilder und die beiden Kinder tragen manchmal Imitationen von Gasmasken, was die Personen unpersönlicher und unheimlich erscheinen lässt.

Während der Aufführung bleibt die Bühne im Halbdunkeln: Es gibt nur wenig Lichtquellen, die zudem von den Kindern entfernt erscheinen. Am Anfang und Ende tragen sie ihr eigenes Licht vor dem Herzen. Dieses „innere Licht“ verschwindet zeitweilig, erlöschen tut es aber nicht.

Herz der Finsternis

Am geheimnisvollsten ist in dieser Version des Märchens die Figur der Hexe. Dem Autorenteam Isaac Bush an Anne Simon gelang hier die Konstruktion einer Figur, die alle Gefahren, die auf Kinder lauern und all ihre Ängste, in sich vereinigt.

Sie ist Vater und Mutter zugleich, sie führt und verführt ihre Kleinen mit Peitsche und Zuckerbrot, genauer gesagt mit Brot und Prügel. Sie ist aber auch der oder die Verständnisvolle, der/die für seine/ihre Kinder da ist, um sie im nächsten Moment zu opfern oder gar zu töten. Ihre Maske erinnert an „The Rocky Horror Picture Show“: Eine androgyne anmutende Gestalt, mit provokanten weiblichen Merkmalen. In einer Szene erhalten Hänsel und Gretel von ihr einen Keks, dargeboten wie eine Hostie in der Kirche.

Die Kinder huldigen ihr in einem fast religiösen Fanatismus. Die Hexe als Symbol aller Heilslehren, die oft Kinder, aber auch Erwachsene für ihre Sache missbrauchen. Gretel kann sich von dieser übermächtigen Vaterfigur nur lösen, indem sie sie tötet. Ihr früheres Trauma der Vergewaltigung lässt sie aber nicht los.

Die Gewalt, die jeden Tag überall auf der Welt Kindern angetan wird, und die dadurch ihrer Kindheit beraubt werden, ist im Stück allgegenwärtig. Es ist ein Stück, bei dem einem das Lachen manchmal im Halse stecken bleibt.
Das Stück ist übrigens allen Kindern gewidmet, deren Stimme in Folge von Gewalt verstummt ist.