Eine Wand aus Wut

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Ach, gäbe es nur diesen Engel, der sie stark macht, all die Mädchen und Frauen, die hin- und hergerissen sind zwischen Gefühlen und Gewissen. Weil es ihn aber nicht gibt, hat ihn das Tanztheater „Aya“ aus Amsterdam einfach erfunden und ihn mit zu Traffo gebracht. Heike Bucher

Ach, gäbe es nur diesen Engel, der sie stark macht, all die Mädchen und Frauen, die hin- und hergerissen sind zwischen Gefühlen und Gewissen. Weil es ihn aber nicht gibt, hat ihn das Tanztheater „Aya“ aus Amsterdam einfach erfunden und ihn mit zu Traffo
gebracht.
Heike Bucher

„Darf ich so leben, wie ich will oder verabscheut ihr mich dann?“, fragt die junge Muslimin leise vor sich hin. Sie hat sich verliebt und darf doch gar nicht, weil die Tradition und vor allem ihr Vater es so wollen. Weil sie nur ein Mädchen ist, muss sie tun, was Papa sagt und den einzigen Schatz, den sie besitzt und der sich zwischen ihren Beinen befindet, bewahren. Alles andere wäre schlampig und „ein Haufen Dreck“.
Dabei sind doch am ganzen Körper diese kleinen Knöpfe, und wenn sie darauf drückt, kitzelt es überall. Aber sie muss aufhören, auf diese Knöpfe zu drücken, sagt sie zu sich selbst, weil immer irgendein Gott zuschaut, der sauer wird, wenn sie solch unanständige Dinge macht.

„Du sollst fühlen!“,schreit der Engel

„Bronstsluier“ heißt das Stück, das vergangene Woche im Traffo-Theater in den CarréRotondes aufgeführt wurde. Es ist ein Stück für Kinder ab zwölf Jahren und handelt von Liebe, Sex, dem ersten Mal und davon, dass so vieles anders läuft, als man es sich vorstellt. „Immer mache ich alles falsch: Ich bin ein Trottel, eine dumme Kuh“, redet sich das Mädchen ein. So kann das nichts werden. „Du musst fühlen“, haucht ihr der Engel entgegen, und weil das Mädchen nicht sofort versteht, schreit der Engel sie an: „Du sollst fühlen!!!“
Der Engel ist unnachgiebig und verlangt viel: Das Mädchen soll sich fallen lassen und doch auf eigenen Beinen stehen, nicht zur Klette werden, die von einer Abhängigkeit in die nächste rutscht. Und sie soll lernen, „nein“ zu sagen. „Das kannst du“, sagt der Engel.
Es sind einfache Botschaften, mit denen die junge niederländische Tanzgruppe nach Luxemburg gekommen ist. Einfach, aber doch auch unglaublich schwierig, weil es so viele religiöse oder soziale Traditionen gibt, die selten hinterfragt werden, nicht nur im Islam.
Außerdem ist das Rebellieren gegen Verbote und Gesetze ohnehin nicht leicht – für Teenager schon gar nicht. Deshalb tanzen sie auch und demonstrieren ihre Wut mit einer Körpersprache, die nur so strotzt vor Kraft und Vitalität.

Sie sind auf der Hut. Oder kampfbereit

Schon vor Beginn der Vorstellung sind die Tänzer – drei Frauen und zwei Männer – auf der Bühne, dehnen sich, üben Drehungen und beobachten das Publikum dabei, wie es seine Plätze sucht. Ungläubig und kritisch sehen sie aus, breitbeinig mit leicht angehobenen Armen stehen sie da, als seien sie auf der Hut. Oder kampfbereit.
Und dann laufen sie auf das Publikum zu, als eine Wand aus Wut und Entschlossenheit stellen sie sich auf und bekommen, was sie wollen: die völlige Aufmerksamkeit der jugendlichen Zuschauer. Und so bleibt es für die kommenden 70 Minuten: Das Publikum ist voll dabei, vergessen sind Handy-Spielereien oder kleine Gespräche nebenher – eine häufige Begleiterscheinung mittelmäßiger Jugend-Theaterstücke. Denn „Bronstsluier“ ist anders, das Stück mitsamt seiner Choreographie nimmt gefangen, es reißt mit und zeigt Wege auf, die oft viel einfacher zu beschreiten sind, als man vorher vielleicht glaubte.