Ein Kessel brodelndes Leben

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LUXEMBURG - Am 4. April wurde der Schauspieler Juliano Mer Khamis vor dem von ihm gegründeten „Freedom Theater“ im Westjordanland erschossen.

Am Mittwoch lud das „Comité pour une paix juste au Proche-Orient“ in die Cinémathèque ein und zeigte den von Mer Khamis gedrehten Dokumentarfilm „Les enfants d’Arna“. Der Film erinnert nicht nur an Mer Khamis, sondern an all die vielen Menschen, die im Nahostkonflikt viel zu früh sterben.

Als Sohn einer israelischen Jüdin und eines palästinensischen Christen wurde Juliano Mer Khamis mitten in den Nahostkonflikt hineingeboren. Schnell konnte er sich als angesehener Schauspieler etablieren – doch entschied er sich gegen Hollywood und für das Westjordanland.

Nachdem seine Mutter, eine Friedensaktivistin, in den achtziger Jahren ein Theaterprojekt in dem Flüchtlingscamp in Jenin im Westjordanland gründete, begleitete Juliano Mer Khamis die Arbeit seiner Mutter mit der Kamera. Er filmte die Kinder und Jugendlichen beim Theaterspielen und interviewte sie zu ihrem Leben im Flüchtlingscamp.

„Freedom Theatre“

Nach dem Tod seiner Mutter zog Mer Khamis sich erst einmal zurück, bis er die Nachricht bekam, einer der Kinder aus der Theatertruppe habe sich und vier israelische Frauen bei einem Selbstmordattentat in die Luft gesprengt. Er kehrte zurück nach Jenin, wollte sehen, was aus den anderen Kindern geworden ist und gründete 2006 dann das „Freedom Theatre“.

In seinem Dokumentarfilm „Les enfants d’Arna“ zeigt er sowohl Bilder aus den achtziger Jahren, als seine Mutter anfing, mit den Kindern aus Jenin zu arbeiten, schlägt aber gleichzeitig den Bogen ins jetzt: Er lässt die damaligen Theaterkinder erzählen, was sie heute machen. Und vor allem, wie sie mit der Besatzung und dem Verlust vieler Familienangehöriger und Freunde leben.

Der Film ist deshalb so gut, weil er nicht urteilt. Mer Khamis hält die Kamera drauf, auf einen heißen Kessel brodelndes Leben. Er zeigt die Realität, so wie sie ist. Kinder, die auf Ruinen spielen, Jugendliche, die mit Steinen auf israelische Panzer werfen, junge Erwachsene, die mit Maschinengewehren versuchen, das Camp vor israelischer Invasion zu schützen. Vor allem aber zeigt er die Menschen. So wie sie sind. Nicht beschönigend. Sondern authentisch. „Ich rechtfertige keine Gewalt, aber ich verstehe, wo sie herkommt“, sagte Mer Khamis einmal in einem Interview. Und sein Film zeigt, dass er versteht. Er filmt Kinder, die Rachelieder singen, lässt sie von ihrem Hass auf die israelische Armee erzählen und zeigt, wie sie emotional immer mehr absterben. Er zeigt aber auch, wie sie durch das Theaterspielen wieder anfangen zu fühlen, wie sie in die Rolle eines Königs hineinschlüpfen und sich wenigstens für ein paar Stunden völlig frei fühlen können.

Erschossen

Am 4. April 2011 wurde Juliano Mer Khamis erschossen. Vor seinem Theater der Freiheit. Bis heute ist nicht aufgeklärt, wer der Täter ist. Ermittelt wird in beide Richtungen. Denn vielen Israelis war er ein Dorn im Auge, nicht nur wegen seines Engagements in Jenin, sondern vor allem auch wegen seiner öffentlichen Statements gegen die Besatzungspolitik der Israelis. Und radikale Islamisten sahen ihn als Feind, weil er Jugendlichen, Jungen und Mädchen, Werte wie Freiheit und Emanzipation vermittelte. Nicht doktrinär, sondern spielerisch. Und deshalb so wirkungsvoll. „Ich bin 100 Prozent Palästinenser und 100 Prozent Jude“, hat er gerne selbst von sich gesagt. Ein Mann zwischen den Stühlen, der sich zu keiner Gruppe zugehörig fühlte, der einfach er war. In einem Kontext, indem ihm genau das zum Verhängnis wurde. Sicher können wir viel von Juliano Mer Khamis lernen. Von seinem Film, von seiner Beschäftigung mit Gewalt und ihren Ursachen, von seinem Kampf um Freiheit und deren Voraussetzungen. Besonders aber, dass man nicht leichtfertig urteilen darf.

Schon gar nicht aus den gemütlichen Sesseln in der Cinémathèque heraus.