Ein Festival in Bewegung: Konzerte mit Nézet-Séguin, Chailly und Levit

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Das Lucerne Festival ist und bleibt in Bewegung. Unter dem Leitthema „Macht“ hatten die Verantwortlichen um Intendant Michael Haefliger auch in diesem Jahr wieder einmal einen spannenden Reigen an Programmen und Künstlern zusammengestellt.

Von Alain Steffen

Und immer noch weht in Luzern ein frischer Wind; man will sich nicht auf den Lorbeeren ausruhen, sondern weiterdenken und weitergehen. Trotz relativ hoher Preise gibt man sich bürgerfreundlich; innovative Programme, Künstler zum Anfassen und hochkarätige Aufführungen machen aus dem Lucerne Festival wohl das kompletteste und dynamischste aller europäischen Festivals.

Unsere Konzertserie begann am 22. August allerdings mit einem eher enttäuschenden, wenn auch sehr interessanten Paukenschlag. Publikumsliebling Leonidas Kavakos spielte das Violinkonzert von Ludwig van Beethoven. Vor nicht allzu langer Zeit hatten wir den griechischen Violinisten mit diesem Konzert gehört und sind damals von seiner spannungsgeladenen Interpretation begeistert gewesen. In Luzern hatte sich Kavakos allerdings für ein anderes Interpretationskonzept entschieden. Quasi mit dem Seziermesser legte er Beethoven Werk offen, spürte jedem Detail, jeder melodischen Linie, ja jeder Note nach. Mit extrem langsamen Tempi und seiner phänomenalen Technik ließ er das Publikum eine Musik innerhalb des Werkes hören, die einem sonst verborgen bleibt.

Dass so viel liebevolle Detailarbeit auch ihre Schattenseite hat, merkte man schnell. Beethovens Violinkonzert kam einfach nicht in die Gänge. Kavakos feierte sich und seine Spieltechnik, zeigte allen, was er in diesem Werk entdecken konnte – nur einen genuinen Fluss der Musik konnte er nicht erreichen. Überall zerbröckelte die Struktur in ihre Einzelteile, einen inneren Duktus gab es nicht.

Yannick Nézet-Séguin amtierte als Gastdirigent des Lucerne Festival Orchestra und unterwarf sich komplett dem Willen des Solisten. Wenn das Orchester auch wunderschön spielte, so kam man hier auch nicht so richtig auf seine Kosten. Erst im Finale erreichte Nézet-Séguin eine gewisse Dynamik; nach einem völlig zerdehnten Kopfsatz und einem selbstverliebten Larghetto war das aber zu wenig. Grandios dann der 2. Konzertteil mit der erschütternden 4. Symphonie von Dimitri Schostakowitsch.

Kontrollierte Ekstase

Und hier zeigte sich Yannick Nézet-Séguin als kongenialer Interpret und Dirigent. Düsterer, zerrissener, ergreifender und schonungsloser kann man dieses Werk nicht interpretieren. Nézet-Séguin nutzte die Klangqualitäten des Lucerne Festival Orchestra und schuf eine Interpretation, die wohl keinen kalt gelassen hat. Trotz der emotionalen Wucht und orchestralen Ekstase behielt der Dirigent immer die Kontrolle, sodass sich Klarheit, Transparenz und Klangpracht wunderbar ergänzten.

Zwei Tage später (24. August) spielte dieses wundervolle Orchester dann Gustav Mahlers 6. Symphonie in einer ebenso bahnbrechenden wie spieltechnisch perfekten Interpretation. Am Pult stand diesmal Chefdirigent Riccardo Chailly, der sich endlich als würdiger Nachfolger von Claudio Abbado erwies. Gnadenlos schöpfte Chailly die Zerrissenheit und Tragik der Musik aus und ließ das Publikum sie hautnah miterleben. Keine plakativen Effekte, keine süßlichen Momente, Chaillys markante, akzentreiche und vor allem emotional ehrliche Interpretation machten diese Symphonie quasi zu einem seelischen Höllenritt, bei dem es, außer im Andante, keinen Moment der Ruhe oder der Hoffnung gab.
Atemberaubend wie immer: das Spiel des Lucerne Festival Orchestra, in dem sich alle Musiker hundertprozentig in den Dienst der Musik stellen und somit interpretatorische Grenzen überschreiten. Sowohl bei Schostakowitsch wie auch bei Mahler.
Präzis, aber emotionslos

Dazwischen hatte man (am 23. August) ein Konzert mit dem Shanghai Symphony Orchestra gesetzt, über das man eigentlich wenig zu sagen braucht. Die perfekte asiatische Spieltechnik kann nicht über gestaltungs- und vor allem emotionsarme Interpretationen hinwegtäuschen. Das Orchester unter der Leitung seines Chefdirigenten Long Yu funktioniert mit der Präzision einer Schweizer Uhr und der subtile Klang ist sicherlich ideal für französische Musik, aber wenn die Werke nur mit äußerlicher Brillanz gespielt werden, dann hinterlässt das wirklich keinen nachhaltigen Eindruck.

Qigang Chens Wu Xing (Die fünf Elemente) eröffnete das Konzert, ohne dabei wirklich punkten zu können. Sergej Rachmaninows Sinfonische Tänze klangen zwar spektakulär, blieben in der Interpretation allerdings eindimensional und trotz Lautstärke recht langweilig. Von diesem berechenbaren, emotionslosen Spiel profitierte dann wenigstens etwas das zurückhaltende Violinkonzert Nr. 1 von Sergej Prokofjew. Makellos und überdurchschnittlich wie gewohnt: der Violinist Frank Peter Zimmermann, der diesem 1. Violinkonzert interpretatorisch wie auch spieltechnisch nichts schuldig blieb. Mit einem anderen Orchester hätte er sicher hier Maßstäbe setzen können.

Ein pianistisches Ereignis

Im Rahmen der Luzerner Festivals 2019 spielt der russische Pianist Igor Levit in diesem Jahr sämtliche Beethoven-Sonaten. Als Matinée (25. August) spielte er vor vollbesetztem Saal die Klaviersonaten op. 78, op. 7, op. 14 N r. 1&2 sowie Les Adieux op. 81a. Levits Spiel begeistert einerseits durch seine ungemeine Frische und Lebendigkeit, ein Interpretationskonzept, das sich deutlich von der klassischen russischen Tradition, aber auch von der intellektuell geprägten deutschen Schule abhebt. So findet Levit ganz schnell zu einem eigenen Ansatz, bei dem er ein klares und transparentes Spiel mit Virtuosität und Schönheit kombiniert. Daraus entsteht dann eine wundervolle Eigendynamik, die Beethovens Musik einerseits sehr kantig und akzentreich, andererseits aber auch sehr fließend und mitreißend gestaltet. Für jede Sonate findet Levit den richtigen Ton und meistens sind es nur winzige Nuancen, die seinem Spiel immer wieder einen Aha-Charakter im positiven Sinne verleihen. Kein Zweifel, Igor Levits Beethoven, der zudem durchgehend Charakteristika der historisch informierten Aufführungspraxis mitverarbeitet, ist ein pianistisches Ereignis.