Die Musik bleibt!

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Interview mit dem Dirigenten Sir Colin Davis: Alain Steffen

Tageblatt: Sir Colin, Sie haben das Requiem von Verdi in der Philharmonie dirigiert. Welche Bedeutung hat dieses Werk für Sie persönlich?
Sir Colin Davis: „Das Requiem von Verdi ist eines der erhabensten Stücke der Musikgeschichte. Es ist so echt, so herrlich, so ergreifend. Ich verstehe auch nicht, dass man dem Stück vorwirft, es sei zu opernhaft. Es ist höchstens eine Oper der Seele.“

„T“: Am Anfang Ihrer Karriere stand die Klarinette, nicht das Dirigentenpult. Was hat den Ausschlag gegeben, dann doch Dirigent zu werden?
S.C.D.: (lacht) „Es war eine völlig irrationale Entscheidung. Aber irgendwie war der Wunsch, Dirigent zu werden, schon sehr früh da, mit 13 oder 14 Jahren. Dirigent sein bedeutet, sich mit Leidenschaft der Musik hingeben, neugierig sein, lernen, die Musik in ihrer Gesamtheit begreifen.“

„T“: In den 60er Jahren waren Sie einer der ersten Berlioz-Pioniere, die seine Musik einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machten. Aber bei Konzerten ist seine Musik eher die Ausnahme. Warum?
S.C.D.: „Es liegt sicherlich nicht an der Qualität der Musik. Berlioz hat wunderbare Musik geschrieben, aber wenn man richtig hinschaut, merkt man, dass es eigentlich gar nicht so viele Werke sind. Und von diesen Werken gibt es nur eine geringe Zahl, die man ohne Schwierigkeiten im Konzert aufführen kann.“

„T“: Ein treuer Weggefährte war und ist Ihnen Jean Sibelius. Ihre Aufnahme der Symphonien mit dem Boston Symphony Orchestra gilt heute noch immer als die Referenzeinspielung. Woher stammt die Faszination für Sibelius’ Musik?
S.C.D.: „Es ist ganz sicher dieser besondere Klang mit seiner scheinbar unendlichen Tiefe, der mich immer wieder fasziniert. Und dann natürlich die Emotionen! Die Kraft, die in dieser Musik ist! Und wie Sibelius dann auch komponiert, alles ist unkonventionell, neu, einzigartig. Und trotzdem hielt er sich immer an die klassische Tradition. Sibelius ist für mich auch der letzte Komponist, der wirklich klassische Musik schreiben konnte.“

„T“: Inwiefern hat sich Ihre Auffassung über Musik im Laufe der Jahre geändert?
S.C.D.: „Der Musik begegnet man an einem bestimmten Moment in seinem Leben und lernt sie zu lieben. Später hat man sich als Musiker verändert, die Musik ist immer noch die gleiche, aber sie hat die Fähigkeit, uns in jedem Moment anders zu berühren. Musik war mir immer ein wunderbarer Freund; sie ist einfach da.“

„T“: Gibt es Werke, zu denen Sie den Bezug verloren haben?
S.C.D.: „Es gibt Werke, wie beispielsweise die 5. Symphonie von Gustav Mahler, wo ich als Interpret nichts mehr zu sagen habe. Und es gibt so viele hervorragende Mahler-Dirigenten, die weit mehr mit seiner Musik anfangen können als ich; wieso soll ich dann auch noch meinen Beitrag dazusteuern? Das ergibt für mich keinen Sinn.“

„T“: Sie sind immer sehr lange bei einem Orchester geblieben. Bei der Staatskapelle Dresden 30 Jahre, beim Boston Symphony Orchestra waren Sie 14, in Covent Garden 15 Jahre. Braucht man als Orchester diese Zeit, um zusammenzuwachsen?
S.C.D.: „Ich glaube schon. Aber das ist meine persönliche Auffassung. Andere Dirigenten sehen das anders. Aber man muss irgendwo sitzen und arbeiten. Und lernen! Und für mich ist es viel einfacher, dies dort zu tun, wo ich gerne bin.“

„T“: Nehmen wir die Staatskapelle Dresden. Was ist für Sie das Besondere an diesem Orchester?
S.C.D.: „Dieses Orchester besitzt einen Klang, der einfach einzigartig ist. Man muss bedenken, dass die Staatskapelle Dresden jahrzehntelang isoliert dastand und so eine ganz eigene Dynamik entwickelt hat. Die jungen Musiker kamen von der dortigen Musikhochschule und haben die Spielkultur direkt von ihren Vorgängern übernommen. Da gab es keine, oder nur sehr wenig Einflüsse von außen. Und wenn man bedenkt, dass Dresden keine Weltstadt ist, ist es schon bewundernswert, dass diese Stadt ein auf der Welt einzigartiges Orchester geformt hat.“

„T“: Welche Erwartungen haben Sie an ein Orchester?
S.C.D.: „Erwartungen sind besser als Forderungen. Als Dirigent erwartet man natürlich von einem Orchester, dass es alles gibt. Als Künstler erwarte oder wünsche ich mir, mit seiner Tradition, Spielkultur, seinem Wissen konfrontiert zu werden. Eine gewisse Neugierde, eine Offenheit für das Neue, für das Unerwartete ist aber auch sehr wichtig.“

„T“: Bei Ihren Opern-Einspielungen sind Sie sehr selektiv vorgegangen. Da gibt es einen Lohengrin von Wagner, etwas Puccini, etwas Verdi, viel Mozart, einen erstaunlich späten Fidelio.
S.C.D.: „Das war eher marktstrategisch bedingt und lag sicherlich nicht in erster Linie an mir. In meiner Zeit in Covent Garden habe ich den ganzen Wagner dirigiert, auch viel Strauss, eigentlich das ganze Repertoire. Nehmen wir Wagners Ring des Nibelungen. Heute einen Ring einzuspielen, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit. Erstens, weil es unheimlich teuer wird, zweitens, weil es extrem zeitaufwendig ist, drittens, weil es schwierig ist, ein derart großes Sängerensemble optimal zusammenzustellen, viertens, weil jede große Plattenfirma mindestens einen guten Ring im Kasten hat. Da würde man sich dann selbst Konkurrenz machen. Ähnlich ist es auch mit den anderen Opern. Heute gibt es ja von jedem Werk fast unzählige Einspielungen. Der CD-Verkauf in der klassischen Musik ist rückläufig, zumindest, was die guten Sachen betrifft (lacht), und somit wenig rentabel.“

„T“: Was mich aber erstaunt, ist, dass Sie als Engländer nur sehr wenige Britten-Opern eingespielt haben. Wieso?
S.C.D.: „Ja, Peter Grimes und The Turn Of The Screw. Peter Grimes sogar zweimal. Wieso? Weil es Brittens beste Opern sind. Die sind so dramatisch, so emotional, so perfekt in der Ausarbeitung, das sind Opern in allerbester Tradition.“

„T“: Und Billy Budd?
S.C.D.: „Mmmmh! Ich habe, ehrlich gesagt, meine Schwierigkeiten mit Billy Budd. Weil die Beziehungen einfach nicht immer stimmen, besonders zwischen Billy Budd und Captain Vere.“

„T“: Wirkt sich die Herkunft des Dirigenten auch auf seine Sichtweise der Musik oder seine Interpretation aus?
S.C.D.: „Wenn ja, dann sicherlich nicht prägend. Das Leben als Musiker ist so international, so interkulturell, dass die Herkunft eigentlich nur eine untergeordnete Rolle spielt. Vielmehr sind es die Lehrer und die Orchester, die einen formen. Sicher, als russischer Musiker ist man eher einer russischen Schule verpflichtet, aber das hat meistens mehr mit dem technischen Teil der Arbeit zu tun. Sichtweise und Interpretation ergeben sich aus dem, was man aus seiner eigenen Persönlichkeit, seinem eigenen Wissen in die Musik mit hineingibt.
Anders ist es aber bei den Komponisten. Nehmen Sie zum Beispiel Dvorak und Sibelius. Sie sind von ihrer Heimat, ihren Landschaften und Menschen, von deren Mythen und Melodien geprägt. Alle diese Einflüsse haben sie in ihrer Musik verarbeitet. Aber die Orchester, die Dirigenten, die Solisten, die sind so international, dass ihre Herkunft eigentlich hinter dem Musizieren zurücktritt. Das Wunderbare an der Musik ist ja, dass sie trotz aller nationalen Einflüsse überall auf der Welt zu verstehen ist.“

„T“: Sie stehen jetzt seit einem halben Jahrhundert auf allen Dirigentenpodien dieser Welt. Was hat sich in diesen Jahren wesentlich im klassischen Musikbetrieb verändert?
S.C.D.: „Die Musik bleibt! Das ist wohl die wichtigste Erfahrung, die ich in all diesen Jahren gemacht habe. Am Anfang, also in den frühen sechziger Jahren, haben die Schallplattenfirmen unheimlich viel für die klassische Musik getan und, ja, man kann es wirklich so sagen, bis zum letzten Tröpfchen Blut ausgebeutet. Und dann haben sie alles weggeworfen. Letztendlich, besonders in den letzten Jahren der Blüte, ging es nur noch ums Geld. Die wirklichen Kenner unter den Produzenten wurden durch geschäftstüchtige Manager ersetzt. Die Musik, wir Künstler waren denen völlig egal. Dann ist diese Branche komplett zusammengebrochen, jetzt versucht man, das große Geld mit der Popmusik zu machen.
Von uns redet doch fast niemand mehr, weder im Fernsehen noch im Radio noch in den Zeitungen. Klassische Musik ist etwas für Insider geworden. Und doch. Sehen Sie sich die Konzertsäle und die Opernhäuser an. Die sind voll. Die Menschen strömen zu den Konzerten, heute genau so stark wie früher. Aber die Orchester müssen viel mehr reisen, um sich bekannt zu machen oder bekannt zu bleiben. Früher haben das die Schallplatten getan, jetzt ist es umgekehrt, heute werben viele Konzerte und Tourneen für die neuesten CD-Produktionen des Orchesters.“

SIR COLIN DAVIS

Sir Colin Davis wurde 1927 geboren, er ist ein englischer Dirigent.
Neben dem BBC Symphony Orchestra war er am Royal Opera House und beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks angestellt, bevor er von 1995 bis 2007 Chefdirigent des London Symphony Orchestra wurde.

Am vergangenen Samstag spielte Davis mit dem London Symphony Orchestra die „Messa da Requiem“ von Giuseppe Verdi.
Siehe nebenstehende
Konzertkritik.