Deutsche Historiker und ihre Geschichte

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Am Mittwoch (12.10.) hält der Historiker Peter Schöttler auf Einladung der Fondation Robert Krieps einen Vortrag über das Verhältnis deutscher Historiker zu ihrer eigenen Geschichte.

Per Mail-Interview hat er uns bereits einen Vorgeschmack auf die spannende Forschungslage gegeben.

Fondation Robert Krieps
Vortrag von Professor Peter Schöttler

Les historiens allemands face à leur propre histoire

• Am Mittwoch, 12.10. um 18 Uhr
• in der Chapelle des CCRN
• in französischer Sprache
• Eintritt ist frei

• Infos:
fondationrobertkrieps.lu

Tageblatt: Mit Ihrem Werk „Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945“ haben Sie ein grundlegendes Werk zur Westforschung vorgelegt. Können Sie Ihre Thesen kurz umreißen, inwiefern die Geschichtswissenschaft während des Nationalsozialismus auf die politische Wirklichkeit Einfluss genommen hat?

Peter Schöttler: „Lange Zeit hat man den Beitrag, das willige ’Mitmachen’, der deutschen Historiker bei der Errichtung des Hitler-Regimes, bei der Stabilisierung des Dritten Reiches und schließlich im Krieg verdrängt, kleingeredet oder gar vertuscht. Man muss sich das ähnlich vorstellen wie bei Diskussion über die Rolle der Wehrmacht; lange Zeit schob man einfach alles auf die böse SS. Genauso hat man behauptet, nur eine ganz kleine Minderheit von Historikern habe sich den Nazis angedient, während die Universitäten als solche kaum gleichgeschaltet werden mussten, denn alle waren brav konservativ. Nur die Juden wurden leider vertrieben. Der Hintergrund für diese Legende ist natürlich die große personelle Kontinuität vor und nach 1945: Fast alle überlebenden NS-Wissenschaftler haben spätestens in den 50er Jahren wieder einen Lehrstuhl erhalten. Unser Buch, das auf ein „panel“ beim Leipziger Historikertag 1994 zurückgeht, hat daher versucht, dieses falsche Bild zu korrigieren. Wir haben zum Beispiel erschreckende Tatsachen aufgedeckt, wie die Beteiligung von Geschichtsprofessoren am Holocaust in Osteuropa oder von sogenannten ’Westforschern’ bei der Besatzungspolitik in den Benelux-Ländern und in Frankreich. Das hätte man eigentlich schon lange wissen können, denn die Archive gab es auch im Westen, aber man meinte Rücksicht nehmen zu müssen auf einige alte Herren.“

Welche Narrative wurden in den Geschichtswissenschaften konstruiert, die den Zielsetzungen der Nationalsozialisten dienten?

„Das Dritte Reich fiel bekanntlich nicht vom Himmel, sondern wurde schon während der Weimarer Republik vorbereitet. Ein wichtiges Element war die ständige Propaganda gegen den Versailler Vertrag und den ’Westen’ allgemein. Von Anfang an wurde eine Revision der 1919 festgelegten Grenzen gefordert, wobei nicht bloß nationalistisch, sondern ’völkisch’ argumentiert wurde. Heute würden wir das vielleicht ’ethnisch’ nennen. Anfangs forderte man nur eine Rückkehr der verlorenen Gebiete. Vor allem nach 1933 wurden aber auch expansive Forderungen erhoben. Dazu diente der Begriff des ’Volks- und Kulturbodens’. Alle Gebiete, auf denen irgendwann einmal ’Deutsche’ gelebt hatten oder ’deutsches Blut’ geflossen war, sollten wieder zum ’Reich’ gehören. Das war natürlich intellektuelles Dynamit, und die akademischen Historiker haben begeistert damit gespielt.“

Welchen Einfluss hatte die Westforschung auf die Invasion der Nationalsozialisten in Luxemburg?

„Die sogenannten Westforscher, die seit 1931 in einer insgeheim von der Reichsregierung finanzierten ’Rheinischen’, später ’Westlichen’ Forschungsgemeinschaft zusammenkamen, haben die Besetzung und teilweise auch Annexion der westlichen Länder sowohl propagandistisch als auch konkret mit Kartenmaterial und der Ausbildung von Wissenschaftlern, Lehrern, Journalisten usw. vorbereitet. Auf diese Weise haben sie die Politik der ’ethnischen Säuberung’ – damals nannte man das ’Umvolkung’ – und schließlich sogar des Völkermords mit vorbereitet.“

Sie sind ein Befürworter nicht nur der interdisziplinären, sondern auch der länderübergreifenden Geschichtsforschung. Wie sieht diese Ihrer Meinung nach im Idealfall aus?

„Schon Anfang des 20. Jahrhunderts haben viele Historiker versucht, interdisziplinär zu arbeiten. Auch in Deutschland natürlich. Gerade während der NS-Zeit haben Historiker eng mit Geografhen, Linguisten und Folkloristen zusammengearbeitet. Das Stichwort hieß ’Volksgeschichte’. Aber der Pferdefuß war natürlich der Nationalismus und der ’völkisch’ verengte Blick, alles wurde am Maßstab des eigenen ’Volkes’ gemessen.

Erst der große belgische Historiker Henri Pirenne hat nach dem Ersten Weltkrieg gesagt, damit müsse endlich Schluss sein und eine ’histoire comparative’ gefordert. Das hat den Nationalisten aller Länder natürlich nicht gefallen, und gerade in den Augen der NS-Historiker war Pirenne, auch als Humanist und Demokrat, stets der Erzfeind. Heute ist die Situation Gott sei Dank völlig anders. Europa wächst zusammen, und die jungen Historiker, die viel reisen und oft mehrere Sprachen sprechen, haben kaum noch Angst davor, ihre eigene Nationalgeschichte kritisch zu betrachten. Das heißt freilich nicht, dass es nicht manchmal Kontroversen gibt, wenn an liebgewonnene Klischees oder Tabus gerührt wird.“

Was sind Ihre theoretischen und politischen Zielsetzungen in den kommenden Jahren?

„Ich selbst schreibe derzeit an einem Buch über Marc Bloch, den französischen Historiker, der 1944 von den Nazis ermordet wurde. Ich glaube, wir können noch immer viel von ihm lernen. Das gilt einerseits für die vergleichende, europäische und transnationale Perspektive. Andererseits aber auch für einen experimentellen Zugang in der Geschichtsschreibung. Es genügt eben nicht, Ereignisse oder große Ideen aneinanderzureihen. Man braucht auch Begriffe und Interpretationsmodelle, und man muss sich vor Moralismus hüten.“

Wie beurteilen Sie den Umgang mit dem Nationalsozialismus in den deutschen, aber auch internationalen Geschichtswissenschaften heute?

„Die Geschichte des Nationalsozialismus ist in den letzten zehn Jahren grundlegend erneuert worden. Unser Bild vom Holocaust hat kaum noch etwas mit dem zu tun, was in den 60er oder 70er Jahren gelehrt wurde. Das hat mit der Öffnung der Archive in Osteuropa zu tun, aber auch die Perspektiven der Historiker haben sich verändert. Sowohl die Täter- als auch die Opferforschung, um einmal diese etwas zynischen Begriffe zu benutzen, haben völlig neue Einsichten zutage gefördert. Um einen Einblick in diesen Forschungsstand und die neuesten Fragestellungen zu bekommen, kann ich nur dringend die Lektüre von Saul Friedländers Meisterwerk, ’Das Dritte Reich und die Juden’, empfehlen, das sowohl in deutscher als auch in französischer Übersetzung erschienen ist.“