Der Staatsfeind Nr. 1

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Was wäre die amerikanische Geschichte ohne ihre legendären Banditen? Einer von ihnen war John Dillinger, der seine kriminelle Laufbahn als Hühnerdieb begann und in den 30er Jahren Banken ausraubte. Und dies so erfolgreich, dass ihn das FBI zum ersten amerikanischen „Staatsfeind Nr. 1“ kürte.

Das Gangsterdrama „Public Enemies“ zeichnet die kurze Karriere dieses Bankräubers und Ausbrecherkönigs nach, der mit seiner Gang Kriminalgeschichte schrieb. Regie-Veteran Michael Mann beschränkt sich auf das schmale Zeitfenster von Dillingers Gefängnisausbruch 1933 bis zu seinem Tod nach einem Kinobesuch in Chicago 1934. Als rote Fäden dienen Dillingers Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei und die Beziehung zu seiner großen Liebe Billie Frechette, einer indianisch-französischen Garderobiere.
Dillingers Jäger ist Agent Melvin Purvis, der „Clark Gable des FBI“, der direkt einem gewissen J. Edgar Hoover unterstellt ist. Hoover, später als „Kommunistenfresser“ berüchtigt, verdankt dem Gangster seine Karriere, denn die dreisten Banküberfälle führten zur Gründung der Superbehörde FBI, deren Chef Hoover wurde.
Wie so oft bei Mann, der zum Beispiel mit „Heat“ ein denkwürdiges Duell der Großkopfeten Robert de Niro und Al Pacino inszenierte, glänzt auch sein neues Werk mit einem bis in die kleinsten Rollen erlesenen Ensemble männlicher Charaktermimen.
Und die französische Oscar-Gewinnerin Marion Cotillard, bezaubernd in eleganten Roben, gibt ihr Bestes, um im testosterongetriebenen Gewerbe Eindruck zu hinterlassen. Auch lässt Mann, ein großer Stilist, seinen Kameramann Dante Spinotti Straßenzüge und Kulissen mit hochauflösenden, tiefenscharfen Handkameras ablichten. So wirkt das bleihaltige Geschehen wie Reality-TV über einen um die Ecke stattfindenden Bankraub.
Allerdings übersteht die Gang wie in „Heat“ auch den dichtesten Kugelhagel erstaunlich unbeschadet. Interessant ist die Beobachtung, dass sich Dillinger furchtlos technischer Neuerungen bediente und mit automatischen Waffen und Ford-V8-Fluchtwagen der verschlafenen Lokalgendarmerie stets mehrere Nasenlängen voraus war.
Doch mit der Aufrüstung der Ermittler, der Verfeinerung kriminalistischer Methodik, mit Datenspeicherung und Abhörtechnik zieht sich langsam die Schlinge zu. Eine klitzekleine Erpressung der skrupellosen Cops, die von Hoover „carte blanche“ für „härtere“ Maßnahmen bekommen haben, besiegelt Dillingers Schicksal. Trotzdem spaziert der draufgängerische Desperado noch Stunden vor seinem Tod ungestört im FBI-Büro herum – eine Episode, die angeblich authentisch ist. Kurz: Der Mann hatte wahrlich das Zeug zum Volkshelden. Johnny Depp verleiht dem Gentleman-Gangster, der weibliche Geiseln mit Handkuss gehen lässt, erst recht Glamour. Andererseits nimmt man dem samtäugigen Depp, der angesichts seiner Gangsterbraut fast so romantisch wird wie einst als Don Juan DeMarco, den beinharten Ganoven nicht so recht ab.
Melancholie des
Todgeweihten
Und wie „Jesse James“ Brad Pitt im Epos „Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford“ ist auch Dillinger von der Melancholie des Todgeweihten umflort. Doch der schöne Johnny, dessen Gangsterposen in feinem Tuch ihn wie ein Mannequin wirken lassen, ist sicherlich eine Augenweide. Dagegen bleibt Christian Bale als unterkühlter Agent naturgemäß blass. Langeweile kommt in dem 140-minütigen Film nicht auf, und dennoch hinterlässt er einen merkwürdig schalen Eindruck.
Es fehlt der psychologische Mehrwert, eine Begründung für diese elegische Hommage an Dillinger, dessen Leben mehrfach verfilmt wurde. So lassen sich, nicht nur wegen der langen Vorlaufzeit des Drehs, schwerlich aktuelle Parallelen zur Depressionsära nach dem Börsencrash 1929 ziehen; die Zeitgenossen hätten dem charismatischen Gangster auch applaudiert, wenn er in Boomzeiten die Safes geleert hätte. Und Mann legt sichtlich keinen Wert auf die Darstellung der damaligen Krise. Letztlich wirkt der virtuose Thriller wie das persönliche Liebhaberprojekt eines Regisseurs, der es an der Zeit fand, seine Kunst an einem Mythos zu messen.