/ Der alternde Träumer
Von unserem Korrespondenten Roland Mischke
Wilhelm Genazino hat nur ein Thema: den Mann, der nicht weiß wohin. In „Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze“ führt er es souverän fort. Er schildert die Selbstdemontage seiner Hauptfigur, in dessen Leben drei Frauen eine wichtige Rolle spielen.
Ein Mann trottelt durch die Straßen Frankfurts. Ein Streuner, der vor sich hin brabbelt. Er steckt fest in seiner abgeschlafften Körperhaltung, ihn friert, weil er keine Mütze hat, aber die Hose, die er trägt, hat Bügelfalten. Er war verheiratet, geschieden und von seiner Ex ausgehalten, nun hat er eine Geliebte. Er will immer noch Sex, vor allem weibliche Brüste interessieren ihn, an sie will er sich schmiegen.
Er spricht ständig mit sich selbst, es geht vorrangig um seine persönlichen Probleme. „Ich war daran gewöhnt, dass sich Schwierigkeiten durch den Fortgang der Zeit so lange selbst umbauten, bis sie von kaum einem Problembetreiber wiedererkannt wurden“, heißt es im Roman „Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze“.
Genazino schildert Selbstdemontage
Geschrieben hat ihn Wilhelm Genazino, 75, der verlässlich alle zwei Jahre an seinem Thema, dem des alternden Träumers, fortschreibt. Man stellt sich vor, dass der bekennende Flaneur einen Blick auf seine Pappenheimer hat, aber auch auf sich selbst. Er scheint zu reflektieren, wie es ihm selbst erginge, wenn er zu so einem mutierte, der sich nur noch treiben lässt. Statt ein sonderbarer Zeitgenosse zu werden – ziemlich verlottert, klamm im Portemonnaie und einsam –, beschreibt er das lieber. Das hat etwas Geniales, weil Genazino sich bei dem Mann, dessen Tage immer kürzer werden, total auskennt. Jedes Wort, jede Regung, jede Stimmung seines Protagonisten ist dem Autor und Büchner-Preisträger vertraut. Seit mehr als 40 Jahren beschreibt er ihn, mit „Abschaffel“ fing es 1977 an und wird konsequent weitergeschrieben.
Eine Selbstdemontage wird geschildert, ein allmähliches und unaufhaltsames Abschlurfen in Weltentfremdung. Der Mann ist kein Penner, er hat noch Sehnsüchte, wenn auch ziellose, sein Verstand funktioniert, wenn auch von Melancholie überlagert. Drei Frauen spielen in seinem Leben ihre Rollen: Mit Sibylle war er verehelicht, sie stirbt bei einem Unfall, der aber auch als Selbstmord gedeutet werden kann.
Trauer um rechte Brust
Gleich danach kommt Christa, die wenig später an Brustkrebs erkrankt. Der Ich-Erzähler leidet mit, indem er hauptsächlich über den Verlust der rechten Brust seiner Freundin trauert. Christa weicht aus dem Leben des freigeistigen Gelegenheitsjobbers.
Trost findet er bei Frederike, mütterlicher Typ, verständnisvoll bis zur Unvernunft.
„Frederike nahm meine Hand und drückte sie sich gegen die Brust. Es war Zufall, dass es die rechte Brust war, die Christa künftig fehlte. Frederike war unruhig und wartete, was jetzt passierte“, schreibt Genazino. Sie ist, wie alle Frauen in den letzten Jahren bei diesem Autor, eine „Mannmutter“. Der Erzähler kommt nicht von seiner Erzeugerin weg, die längst verstorben ist. Genazino kennt sich in der Psychoanalyse aus, sein Wissen fließt in den Roman ein.
Autor arbeitet an seinem Erbe
Vom Leben des Erzählers wird nicht in einer Handlung berichtet, es geht um einen Zustandsbericht. Sein Leben ist öde, der Geldmangel, die stehen gebliebene Uhr und die fehlende Mütze stehen für das Ausgesetztsein. Aber die Sprache hilft noch ein bisschen weiter. Der alternde Träumer in der Stadtlandschaft tauscht Straßenbahnhaltestellennamen aus, eine nennt er „Verkorkste Lage“, eine andere „Ewiger Mangel“. Das rettet ihn vor Sinnlosigkeit und Verwahrlosung.
Ein typischer Genazino-Roman, seine Fans werden über den hypochondrischen Lebensverweigerer, der doch gern irgendwie dabei wäre, begeistert sein. Der gebürtige Mannheimer Genazino, seit Jahrzehnten in Frankfurt, kann auf unheimliche Weise beziehungsloses Verhalten, Ruhelosigkeit und Lebensekel beschreiben. Er studiert sie offenkundig unablässig. Das wird sein literarisches Erbe.
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