Lust zu lesenBin ich bei allen Reisen tatsächlich unterwegs?

Lust zu lesen / Bin ich bei allen Reisen tatsächlich unterwegs?
Felicitas Hoppe / Indra Wussow – Unreisen Foto: Verlag

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Was treibt uns in die Ferne? Gibt es richtiges und falsches Reisen? Und was hat das mit Identität zu tun? Die beiden Schriftstellerinnen Felicitas Hoppe und Indra Wussow haben eine Fahrt in die Fragen, die das Unterwegssein stellt, unternommen. Guy Helminger ist ihnen nachgereist.

Der Titel „Unreisen“ deutet es an: So schön das Entdecken fremder Länder auch sein mag, wer sich der Mühe unterwirft, zu fragen, was er da macht, wenn er ein Flugzeug besteigt, um in der Ferne zu landen, den beschleicht ein Unwohlsein. Und das hängt nicht nur am ökologischen Fingerabdruck, den jeder von uns hinterlässt, sondern auch an immanenten Fragen, die scheinbar auf der Hand liegen, die aber kaum jemand stellt. Zum Beispiel, wem das Reisen nutzt. Habe nur ich etwas davon oder auch die Menschen, die ich besuche? Ist die Tatsache, dass ich mit Geld bezahle, weil ich es mir leisten kann, nicht eine Form von modernem Kolonialismus? Ist diese Nutzenkalkulation überhaupt angebracht?

Felicitas Hoppe, die sehr viel unterwegs ist und dies in ihre Bücher einfließen lässt, sich trotzdem nicht als Reiseschriftstellerin sieht, und Indra Wussow, die noch mehr unterwegs ist und Projekte initiiert, bei denen Künstler aus aller Welt zusammenkommen und zu Themen wie „politisches Trauma und Transformation“ arbeiten, geht es in ihrem Gespräch nicht um letztgültige Antworten, sondern um eine Fülle an Ansätzen, die die Leserin, den Leser zum Nachdenken über ein scheinbar banales Phänomen animieren. Dies ist notwendige Grundlage für ein bewusstes Reisen in der Zukunft. Das Buch ist damit ein schönes Beispiel, wie die Methode des Dialogs deutlich machen kann, dass unsere blinde Denkautobahn bei genauerem Hinsehen voller Kreuzungen ist. Eine dieser Kreuzungen ist das Klischee. Behalten wir es ungefragt im Kopf, steht es der Begegnung im Weg, meiden wir es, sind wir unfrei in unserem Denken und Handeln. Aber womöglich ist das Klischee ein guter Anfang für ein Gespräch. Schließlich geht es um ein Ausschalten von Missverständnissen, um eine Annäherung, ja um Aneignung des Fremden, aber eben nicht als eine Form von Inbesitznahme, sondern als haptisches Begreifen des Anderen. Und damit um die notgedrungene Veränderung der eigenen Identität, wie auch um die des Gegenübers. Vielleicht ist sogar das der eigentliche Impuls zum Reisen, die Abwehr dessen, wo man angeblich hingehört, also der Versuch, sich gegen die Starre zu schützen. Genauso gut könnte man aber auch sagen, der Besuch im Unbekannten ist der Bannungsversuch, das Fremde durch Begegnung zu überlisten im Hinblick darauf, die Sicherheit des eigenen Ichs zu gewähren.

Auch wirft das Buch Fragen nach dem Sinn von Autorenresidenzen auf, danach, ob der Zufall der Erfahrung tatsächlich Erkenntnis bringt, genauso wie es die merkwürdige Vorstellung von Echtheit, von Authentizität thematisiert.

Das Coronavirus hat den internationalen Verkehr zu einem guten Teil unmöglich gemacht. Auch darauf gehen Hoppe und Wussow am Ende des Bandes ein und fragen, ob es noch eine innere Einkehr geben kann, wenn die ganze Welt zu einem Kloster mit Reiseverbot geworden ist.

„Unreisen“ ist beileibe keine Absage an das Besuchen fremder Länder. Vielmehr schabt das Buch mit seinem klugen Frage-Reflexion-Schema an der mentalen Hornhaut, die das Reisen oft zu einem problematischen Unternehmen macht.

Damit steht diese Veröffentlichung in bester philosophischer Tradition und ist bei allem Bedenken auch ein Plädoyer, nicht stehen, sondern unterwegs zu bleiben.

Felicitas Hoppe und Indra Wussow

„Unreisen. Felicitas Hoppe und Indra Wussow im Gespräch.“
Verlag Das Wunderhorn 2020.
102 S., 20 €

D. W.
6. Januar 2021 - 15.52

Da spricht der "Kreuzfahrtexperte" Wie so oft in den Kommentaren, keine Ahnung... Davon aber so richtig viel!

Gronnar
6. Januar 2021 - 13.56

Wenn Sie auf einem Kreuzfahrtschiff sind, dann reisen Sie nicht, da werden Sie bloß fett und voll. Reisen bedeutet fremde Kulturen kennenlernen, sich mit Sprache, Zug- oder Bussystem und dem geltenden Geld auseinandersetzen usw. anstatt All-Inklusive zu saufen.