/ Besonders normal
Der amerikanische Regisseur Richard Linklater hatte es schon mit seiner „Before“-Trilogie bewiesen: Er hat ein besonderes Gespür für Alltagssituationen und lebensnahe Dialoge. Er macht Filme, indem er beobachtet, wie sich das Leben im Laufe der Zeit verändert. In seinen drei „Before“-Filmen beobachtet er über zehn Jahre hinweg, wie sich Jesse (Ethan Hawke) und Céline (Julie Delpy) ineinander verlieben, sich entlieben und sich wieder lieben lernen. In „Boyhood“ nun ist es eine Kindheit und Jugend, die Linklater interessiert. Jene des verträumten Mason, der am ersten Drehtag sechs und am letzten Drehtag 18 Jahre alt ist.
„Boyhood“ wird mehrmals täglich in Luxemburgs Kinos gezeigt. (www.utopolis.lu)
Fiktionale Langzeitdoku
Diese fiktionale Langzeitdokumentation hätte auch schiefgehen können, Ellar Coltrane oder ein anderer der Protagonisten hätte keine Lust mehr haben können, die Finanzierung, die immer nur für ein Jahr gesichert war, hätte platzen können oder das Konzept hätte schlichtweg nicht aufgehen können. Schließlich ist es ein Wagnis, über zwölf Jahre lang jedes Jahr einige Tage lang zu drehen und die Szenen dann aneinanderzuschneiden. Doch das Ergebnis ist überwältigend.
Herausgekommen ist weder ein Episodenfilm noch ein gewollt wirkendes Kunstwerk, sondern ein Film, der ohne Action und Kameratricks auskommt, dafür in beinahe naturalistischer Erzählweise ein Stück Leben einfängt. Jeder fühlt sich angesprochen, kann sich in den Szenen wiederfinden, gerade durch seine Normalität wird der Film so besonders.
Mason lebt mit seiner zwei Jahre älteren Schwester Samantha (Lorelei Linklater, die Tochter des Regisseurs) und seiner alleinerziehenden Mutter Olivia (Patricia Arquette) zusammen.
Sein Vater Mason senior (Ethan Hawke, Linklaters Lieblingsdarsteller) ist zwar ein Wochenendvater, doch besonders in der zweiten Hälfte des Films sehr präsent. Die Art und Weise, wie Linklater die Beziehungen innerhalb der Familie auslotet, kennt man eigentlich nur aus großen Romanen. Es ist vor allem die Beziehung zwischen Mutter und Sohn, die einen rührt. Mit alltäglichen Sätzen – „Hast du deine Hausaufgaben gemacht?“ „Viel Spaß, Baby! Schlaf gut.“ – zeigt sie ihre ungebrochene Liebe und ihr Verantwortungsbewusstsein. Im Laufe des Films kann man spüren, wie nah sie ihren Kindern doch ist.
Mason, der sich schon als kleiner Junge deutlich mehr Gedanken über die Welt macht als seine nur Einsen mit nach Hause bringende Schwester Samantha, hat ein gutes Gespür für gute und schlechte Eigenschaften, er ist künstlerisch begabt und reagiert sensibel auf äußere Umstände, wie etwa die durch neue Partner der Mutter bedingten Umzüge. Zu beobachten, wie die Persönlichkeit des kleinen Jungen allmählich ausreift, wie sich Charakterzüge und Neigungen entwickeln, wie aus Mason ein unangepasster Jugendlicher wird, der auf gutem Wege ist, seinen Platz in der Welt zu finden, macht große Freude. Und Mut, denn es muss nicht immer alles perfekt laufen.
Linklater lässt sie seine Protagonisten zwar nie aussprechen, und doch erinnert der Film seine Zuschauer immer wieder an ein paar Lebensweisheiten, die man im Alltag gerne vergisst. So subtil, so behutsam und so liebenswürdig wurde schon lange in keinem Film mehr so viele Wahres gesagt. Wunderbare Bilder, wunderbare Geschichte und wunderbare Schauspieler.
- Zucchinipuffer und eine Rhabarbertorte – leckere Klassiker fürs Wochenende - 12. Juni 2022.
- Sechs gute Gründe für Urlaub im Freien - 12. Juni 2022.
- Monsieur Champagne sagt Adieu - 8. Mai 2022.