Are you heading straight to hell?

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Text: Sascha Dahm, Interview: Sascha Dahm und Jeff Schinker

Mit dem Namen „Pussy Riot“ (zu Deutsch Vaginakrawall) verbinden viele den 21. Februar 2012: Drei junge Frauen sprangen über die Absperrungen der Christ-Erlöser-Kathedrale, einer russisch-orthodoxen Kirche in Moskau, und vollzogen vor dem Altar ein „Punk Prayer“ gegen die kirchliche und politische Allianz Wladimir Putins mit dem Patriarchen der Russisch- Orthodoxen-Kirche, Kyrill I.

Der 41 Sekunden lange Auftritt markierte den Beginn eines fast zweijährigen Martyriums für die drei Mitgliederinnen Nadeschda Tolokonnikowa, Jekaterina Samuzewitsch sowie Marija Wladimoriwna Aljochina. Letztere ist das einzige noch verbliebene feste Gründungsmitglied Pussy Riots, tourt momentan mit dem Programm „Pussy Riot Theatre“ durch ganz Europa und machte gemeinsam mit ihrem Kollektiv vergangenen Dienstag in der Kulturfabrik Halt.

In dem etwa 70-minütigen Punk-Manifest erklären Pussy Riot, basierend auf Aljochinas Buch „Days of Insurrection“, ihren Weg in die russische Gefangenenhölle und zurück und offenbaren auf äußerst eindrucksvolle Weise, dass scheinbar antiquierte Machtpraktiken auch im 21. Jahrhundert immer noch Bestand haben. Die Performance zu beschreiben gestaltet sich schwer; Texte, Songs, Live-Musik – tendenziell elektropoppig/elektropunkig angehaucht –, markante Videos sowie eine sehr körperbetonte Choreografie werden zu einem aufrüttelnden Schauspiel, das auch das zu Beginn etwas steife Luxemburger Publikum schnell mitzureißen und zu belehren wusste: Wiederholtes Skandieren und energiegeladene Bewegungen offenbaren das Bedürfnis nach Freiheit und dem „Rauslassen“ eigener Überzeugungen.

In zwei Teile geteilt, Kathedrale und Gefängnis/Freiheit, bietet die Show dem Publikum sprichwörtlich den Blick hinter die Kulissen: Die Ideologie und Beweggründe der Gruppierung werden ebenso erklärt wie akribisch-geplante Vorgehensweise und der kalte, steinige Weg zurück in die Freiheit, der, trotz Freiheitsbekundungen zahlreicher Politiker, Musiker und Intellektuellen fast zwei Jahre dauerte. Zwei Jahre, in denen Aljochina nicht nur die Schattenseiten eines „demokratischen“ politischen Systems kennenlernte, sondern auch die perfiden Machtmechanismen eines Strafsystems, das mit Gulag-ähnlichen Methoden versucht, den Willen und den Körper der jungen Frau zu brechen. Jedoch ist gerade sie es, die es schafft, 100 Jahre alte verankerte Umgangsmethoden mit Gefangenen im Gefängnis aufzulösen, zu zeigen, dass „Revolution is not a bed of roses“ und sich doch jeder angesprochen fühlen soll, die Stimme zu erheben, wenn Dinge grundlegend fehlerhaft ablaufen.

Man merkte dem Publikum in der Kulturfabrik in Esch den Respekt und die Unterstützung eines solches Vorhabens an und dieses teilweise überfordernde Spektakel mit unterschiedlichen kommunikativen Einflüssen ließ einen beunruhigt und aufgewühlt zurück. Was einen genau aufwühlt, ob es die Dynamik der Performance ist, die Frage nach einer teilweise rückständigen, jedoch sehr bedrohlichen Weltmacht oder das Bedürfnis, sich gegen Etwas zu erheben, da bleibt die Antwort in unsicheren Zeiten jedem selbst überlassen. Einzig und allein dem Kollektiv Pussy Riot sei zu danken für ihr Engagement und für die Einblicke in ein System, das vielen in Zentraleuropa immer noch sehr verschlossen wirkt.

An dieser Stelle sei auch der Kulturfabrik gedankt, die sich auch politisch nicht scheut, Statements zu setzen: Nach Pussy Riot wird am 13. April ein Lektüre-Spektakel aus dem Texten Charbs, seines Zeichens ehemaliger Hauptzeichner Charlie Hebdos und ermordet beim Anschlag 2015, zusammengestellt und präsentiert …


Unheimlich und verschlossen – Pussy Riot im Interview

Das Unheimliche und Verschlossene wird auch dem bewusst, der sich mit Mitgliedern von Pussy Riot unterhält. Alexander Tscheparuchin, ehemaliger Festivalorganisator des bekannten Womad-Russia und Produzent des „Pussy Riot Theatre“, sowie Olga Borissowa, jüngstes Mitglied der Gruppierung und bekennende Aktivistin, haben dem Tageblatt für ein Interview zur Verfügung gestanden.

Tageblatt: Wladimir Putin hat nun zum vierten Mal die Präsidentschaftswahlen in Russland gewonnen und wird in sechs Jahren 24 Jahre russischer Präsident gewesen sein. Was bedeuten weitere sechs Jahre für Russland und seine Bevölkerung?
Alexander Tscheparuchin: Dass Putin gewinnt, war unausweichlich. Es war die wohl zynischste Wahl, die hoffnungsloseste. Demokratische Mittel können nicht zu einem Wechsel führen, einzig Mafia-ähnliche Methoden könnten hier was ändern. Das System macht, was immer es auch für richtig hält und professionelle Propaganda leistet ihren Beitrag.
Olga Borissowa: Zentral ist das Betrachten der Ansichten post-sowjetischer Menschen. Ich glaube an den Fortschritt und die neuen Generationen. Klar war es vor der Wahl Putins in Russland eine sehr schwierige Zeit: Perestroika und der Wandel vom Kommunismus zum Kapitalismus haben viele ökonomische Probleme mit sich gebracht. Kleine Unternehmen verschwinden und die großen multinationalen Firmen und ihre Vorsitzenden machen Millionen Umsatz, während um die 20 Millionen Russen unter der Armutsgrenze leben. Das Paradoxe an der russischen Bevölkerung ist jedoch die Tatsache, dass viele das Parlament oder die Oligarchen keinesfalls mögen, jedoch die Verbindung zu Putin einfach nicht einsehen wollen.
Ich setze meine Hoffnung in die Generation XX, die mit sozialen Medien aufwächst, die gegen die bewusste Ausübung von Macht ist und die alles zu jedem Zeitpunkt beobachtet. Wussten Sie, dass Putin Töchter und sogar eine Enkelin hat? Nein, weil dies nur durch unabhängige Journalisten herausgefunden wurde.

Die meisten Menschen kennen Pussy Riot aufgrund des Auftritts in der Kirche am 21.2.2012. Was folgte, war eine zweijährige Folter. Jahre später bleiben für viele vor allem die Fragen: Hat es sich gelohnt und würde man noch einmal genau so vorgehen?
O.B.: Wir bereuen bis zum heutigen Tag keineswegs, was wir damals gemacht haben. Wir wollen nicht, dass man uns sagt, was wir machen müssen. Wir wollen machen, was wir wollen und wenn der Patriarch uns die Abtreibung, die Pille und die Kondome verbieten will, dann werden wir das nicht akzeptieren. Deswegen vertreten wir auch bis heute den Standpunkt „My cunt is my business“ und wollen auch hier nicht bevormundet werden. Putin-Statements wie „Don’t teach me how to do my stuff. Teach women how to do Borschtsch (Rote-Beete-Suppe)“ werden hoffentlich durch zukünftige Generationen obsolet. Später, wenn Dinge nicht gut sind, wirst du denken, warum habe ich früher nichts dagegen unternommen …?

Milo Rau, dem Regisseur von „Moskauer Prozesse“, der die Gerichtsverhandlungen Pussy Riots thematisiert, wurde aufgrund des Films die Einreise nach Russland verweigert. Wie reagieren Sie auf einen solchen Vorfall?
O.B.: So funktioniert das System immer. Solche Vorfälle gibt es jeden Monat zahlreiche. Wenn man beginnt, sich selber zu zensieren, wie soll man sich denn selbst noch als Mensch fühlen können?

Woher stammt die Idee einer „Media Zone“? Hast es geholfen, die Lücken, die unabhängige Medien durch Zensur erfahren mussten, zu schließen?
O.B.: Nachdem Pussy Riot in Russland stark aktiv waren, entschieden sich einige, die „Media Zone“ zu gründen. Es geht darum, den Menschen die Ungerechtigkeiten in Russland zu zeigen. Ihnen Dinge zu zeigen, die sonst in den Medien Russlands, die sehr unter der Propaganda leiden, nicht gezeigt werden. Aber gleichzeitig auch Geschehnisse, die Putin nicht für seine eigene Propaganda gebrauchen kann. Es sind Beispiele wie die eines kleinen Jungen, der „Pokémon Go“ gespielt hat und dies auch in einer Kirche tat und deswegen verhaftet wurde und in Untersuchungshaft kam mit der Begründung des betriebenen Extremismus. Da wir in Russland Extremisten und Terroristen gleichsetzen, wird dieser Junge nun mit gefährlichen Terroristen in einem Gefängnis sein … Wo wir letztes Jahr von 450 Abgeordneten ganze zwei Oppositionelle hatten, haben wir nun keinen mehr …

Was ist die Kernaussage des „Pussy Riot Theatre“-Schauspiels in Ihren Augen?
O.B.: Jeder hat unterschiedliche Geschichten zu erzählen. Man muss diese erzählen. Geschichten können die Welt verändern. Eine Veränderung, eine Revolution kann nicht einfach nur durch einen Gang durch die Straßen initiiert werden, sondern sie muss auch tief aus der Seele kommen.