Ans Ziel kommt er nie, der Mensch

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Tritt man an ein Stück von Shakespeare heran, tritt man auch sogleich wieder ein paar Schritte zurück.Denn die Intensität des Gefühls und die Verflechtungen von Gedanken und Ideen ziehen sich gegenseitig an und stoßen sich ab.

Der Verstand erfasst eine Idee, man nähert sich ihr, und wird von inneren Konflikten zersprengt, muss der Irrationalität, die im Menschlichen wuchert, Raum geben, um zu versuchen, diesen Raum nachher wieder überlegt zu durchschreiten. Ans Ziel kommt er nie, der Mensch. Sich selbst kann er nie vollkommen erdenken, noch erfühlen; das „Ich“, um welches alles zu kreisen scheint, es bleibt ein Mysterium.

Tiefgreifende Konflikte

So ergeht es Hamlet und so ergeht es auch dem Zuschauer in diesem von Nicholas Hytner überzeugend inszenierten Meisterwerk Shakespeares, das vom Royal National Theatre aufgeführt, glücklicherweise seinen Weg ins Grand Théâtre du Luxembourg gefunden hat.

Die Handlung ist simpel und umfasst wie ein weites und karges Gerüst die tiefgreifenden Konflikte, die diesen Kader danach vielfältig und undurchschaubar umranken. Hamlet, der Prinz von Dänemark, erfährt vom Geist seines Vaters, dem ehemaligen König, dass sein Bruder Claudius, der jetzt den Königsthron übernommen und Hamlets Mutter geheiratet hat, ihn in Wahrheit vergiftet habe und dass Hamlet somit die Pflicht zufiele, seinen Vater zu rächen.

Von diesem Grunde aus strebt das Stück in der Folge zu Mord und Totschlag, inneren und äußeren Konflikten mit einem seelisch zerrütteten, wahrheitssuchenden Hamlet, der grandios von Rory Kinnear dargestellt wird.

Er lässt einen Hamlet entstehen, der in der Auffassung des Zuschauers noch Luft zum Atmen behält; der sich nicht zur Gänze einer Leidenschaft, einer Liebe oder dem Verrücktsein hingibt, sondern versucht, sich durch das Geäst seiner eigenen Ungereimtheiten einen Weg zu schlagen, einen Weg, der zur Wahrheit führen soll.

So weiß Kinnear seinen Hamlet in ein Zwielicht von gespieltem und impulsiv auftretendem Verrücktsein zu tauchen, ihn in wechselnde Charakterformen zu setzen die, nie statisch, Hamlet in seinem zerrütteten Zustand erkennbar werden lassen.

Rory Kinnear nimmt sich nahezu perfekt der Inszenierung von Hytner, der seit 2003 Direktor des Londoner National Theatre ist, an und treibt sie durch seinen energischen Auftritt und seine herrliche Aussprache bestimmend voran.

Fehlt Kinnear jedoch auf der Bühne, dann verliert die Aufführung deutlich an Unmittelbarkeit und Intensität, eine Abschwächung, die auch nicht durch die mehr als souveräne Darstellung des Königs Claudius durch Patrick Malahide wettgemacht werden kann.

Zu konturlos mutet zuweilen das Spiel von Claire Higgins als Königin Gertrude an und besonders Laertes, gespielt von Alex Lanipekun, vermag es nicht, seiner Rolle Tiefe zu verleihen und verliert sich in monotonen, gefühlsschwachen Ausrufen. Was den einen oder anderen Zuschauer wohl auch nicht mehr allzu sehr störte, nach fast drei Stunden Theater, nach denen die Inszenierung zum Ende an Eindringlichkeit verlor.

Dass Regisseur Hytner, das Stück in einen Polizeistaat setzte, um die Umstände der damaligen Zeit unter Elizabeth I. in die Moderne zu tragen, stört dabei glücklicherweise nicht allzu sehr. Die Geheimagenten tun ihre Arbeit auf der Bühne in aller Stille, stehen herum, lassen den Zuschauer spüren, wie jede Handlung, jeder Satz im Schatten ihrer Kontrolle steht und deuten an, dass Ophelia nicht Selbstmord beging, sondern wahrscheinlich im Auftrag des Königs ermordet wurde.

Klug und pointiert

Indem der Regisseur eine Welt entstehen lässt, in der jeder ständig unter Bewachung steht und dennoch alles außer Kontrolle gerät, erweitert er die Interpretationsmöglichkeiten des Stückes noch um einen dramatischen Punkt, drängt sich mit dieser Idee jedoch nicht in den Vordergrund. Ein glücklicher Umstand.

Zu den Glanzleistungen, die man hervorheben muss, gehören sicherlich noch die Auftritte des sophistischen und stets gut vorbereiteten Hofkämmerers Polonius, der auf genüsslich humoristische Weise von David Calder dargestellt wird, sowie die Auftritte der Schauspieltruppe und der Pantomime im zweiten Akt, die mit viel Gefühl und einer anregenden Choreografie das Publikum in die Tiefe dieses tragischen Schlüsselmoments des Stückes zu ziehen wissen.

Dass die Musik dabei von manchen Zuschauern als zu „modern“ empfunden wurde, ist in diesem Falle schwer verständlich, bietet sie doch – klug und pointiert genutzt wie in dieser Aufführung von Nicholas Hytner – ein erstaunliches Medium der Gefühlsintensivierung.

Auf jeden Fall ein sehr anziehender Abend im Grand Théâtre, dessen Kooperation mit dem Royal National Theatre hoffentlich noch nicht so bald ein Ende finden wird.