„Wenn du denn dort entlang willst“Anne Webers „Annette, ein Heldinnenepos“ erhält den Deutschen Buchpreis 2020

„Wenn du denn dort entlang willst“ / Anne Webers „Annette, ein Heldinnenepos“ erhält den Deutschen Buchpreis 2020
Schriftstellerin Anne Weber Foto: (C) Thorsten Greve

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Seit ein paar Jahren beginnt sie zu bröckeln, die lange Zeit unangefochtene Hegemonie des Romans: Nachdem bereits George Saunders’ 2018 mit dem Booker-Prize gekröntes „Lincoln in the Bardo“ dramatische Elemente verarbeitete, krönt die Jury des Deutschen Buchpreises dieses Jahr eine formal spannende „historiografische Metafiktion“: Anne Webers „Annette, ein Heldinnenepos“ erzählt auf eine sprachlich verspielte Weise das Leben einer Widerstandskämpferin und Kommunistin, die nach und nach an ihren ideologischen Überzeugungen zu zweifeln beginnt.

Für Anne Weber war es von Beginn an klar: Das ereignisreiche, turbulente, heldenhafte Leben der Neurologin, Widerstandskämpferin und Kommunistin Anne Beaumanoir – zu Deutsch „schönes Herrenhaus“, ein Name, der so gar nicht zur Person passen will – soll nicht wie in einer herkömmlichen Biografie nacherzählt, sondern besungen werden, weswegen die deutsche Schriftstellerin und Übersetzerin sich nach zahlreichen Begegnungen mit der heute 96-jährigen Französin für die freie Versform und das Genre des Epos entschieden hat. Was anfangs bestenfalls gewöhnungsbedürftig klingen mag und stellenweise anekdotenhaft ist, überzeugt jedoch meist dank Webers unkonventionellem, teilweise märchenhaftem Erzählstil.

„Anne Beaumanoir ist einer ihrer Namen. Es gibt sie, ja, es gibt sie auch woanders als auf diesen Seiten, und zwar in Dieulefit, auf Deutsch Gott-hats-gemacht, im Süden Frankreich. Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie. Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht. Sie ist sehr alt, und wie es das Erzählen will, ist sie zugleich noch ungeboren.“

Dass die Widerstandskämpferin und überzeugte Kommunistin ihr Lebensende in einem französischen Dorf „in der Nähe des Vercors“ verbringt, ist einer dieser Zufälle, die Anne Weber aufhorchen lassen. Vercors ist nicht nur der Name einer Region, sondern auch der Deckname des Schriftstellers, dessen „Le silence de la mer“ 1942 im Untergrund erschien: In dieser ersten Veröffentlichung des aus dem Widerstand geborenen Verlagshauses „Les Editions de Minuit“ erzählt Jean Bruller von einer Familie, die einen deutschen Offizier bei sich zu Hause aufnimmt und ihren Protest durch resolutes Stillschweigen ausdrückt.

Das Schweigen des Meeres

Ebendieses Schweigen kennzeichnet Anne Beaumanoir, genannt Annette, als sie Jahre nach dem Weltkrieg in ihrer Heimat auf ein deutsches Paar trifft, das eine Panne erlitten hat. Die hilfsbereite Annette will den beiden eine Unterkunft besorgen („Wer Annette kennt, kennt eigentlich auch eine Unterkunft“), nur prahlt der Ehemann damit, im Krieg dort in der Gegend zwei Leute festgenommen zu haben. Erst schmeißt Annette die beiden raus, dann kehrt sie um, nimmt das Paar mit und setzt es vor einem Hotel ab.

Es ist diese Art der Verzahnung von Anekdote und Weltgeschichte, die Webers biografisches Projekt ausmacht. Wie zuvor auch George Saunders’ „Lincoln in the Bardo“ reiht sich „Annette, ein Heldinnenepos“ in das, was Forscherin Linda Hutcheon historiografische Metafiktion nennt, ein: Statt, wie es beim historischen Roman oft der Fall ist, die erzählerischen Eingriffe, den fiktionalen Weltenbau und die Formexperimente zu verschleiern, damit der Eindruck unmittelbarer historischer Authentizität entsteht, trägt Anne Weber genau diese Elemente nach draußen, um dem Leser zu verdeutlichen, dass historische Exaktheit eine Utopie ist.

Kommunismus und Widerstand wurden Annette quasi in die Wiege gelegt: Mit dem Pfarrer versteht der Vater sich gut, weil dieser bei Amtsantritt „die gleiche Kerze für alle“ eingeführt hat, die Volksschullehrerin zieht hingegen nur eine der beiden schulisch gleich schlechten Klassenkameradinnen namens Germaine an den Zöpfen, weil eine davon die Bürgermeistertochter ist – „dass Annette früh einen Sinn für Ungerechtigkeit bekommt, ist unter anderem dem einschneidenden Einfluss dieser ersten Lehrerin zu verdanken“. Die Eltern betreiben in Dinan ein Café-Restaurant – und nehmen dort „geflüchtete Spanier“ auf. Neben dem elterlichen ist es aber auch der literarische Einfluss, der Annette prägt: Ihr Vorbild ist Ch’en, eine der Hauptfiguren aus Malraux’ „La condition humaine“.

Mit jener literarischen Inspiration ist der Werdegang von Annette auch bereits umrissen, nicht aber der Erzählton, will Anne Weber sich doch dezidiert vom heroischen, mitunter virilen Ton von Malraux abwenden und vielmehr die seit Denis Diderots „Jacques le fataliste et son maître“ eingeleitete Leichtigkeit der Metafiktion praktizieren. Doch dazu später mehr.

„Abwarten und Radfahren“

Bleiben wir erst mal bei Annette. Die „ist Pazifistin, bis sie mit 15 lieber Terroristin werden will“. Mit 17 fängt sie an, für den Widerstand Päckchen auszuliefern, weil ihr das „Abwarten und Radfahren“ aber zu langweilig ist, zieht es sie nach Paris, wo sie mit 19 dem PC („der ist weder der personal computer noch die political correctness, die er heute meint, sondern eine Partei“) beitritt und wenige Monate später bereits gegen die Regeln der Partei verstößt, weil sie zwei jüdischen Jugendlichen auf Eigeninitiative das Leben rettet. Die Partei wird ihr dies – und ihre Liebe zu Parteimitglied Roland, dessen Ehefrau in Auschwitz starb – übelnehmen.

Nach dem Krieg heiratet sie, bekommt drei Kinder, beendet ihr Medizinstudium, führt ein mehr oder weniger bürgerliches, jedoch nicht ganz zufriedenstellendes Leben, bis der Algerienkonflikt sie wieder in den Untergrund führt: An der Seite des FLN setzt sie sich für den Befreiungskampf der Algerier ein, nachdem sie jedoch verraten wird, wird sie zu zehn Jahren Haft verurteilt und beginnt, ihr bedingungsloses Engagement für politische Ideale zu hinterfragen. Dieser Prozess des Zweifelns beschleicht sie jedoch recht spät – davor gehört sie der ersten Regierung des unabhängigen Algeriens an, vertraut Präsident Ben Balla und sieht den von Verteidigungsminister Boumedienne geplanten Putsch auch deswegen nicht kommen, weil sie weiterhin an die Möglichkeit eines sozialistischen Algeriens glauben möchte.

Die Wahl der epischen Form ist so gewagt wie einleuchtend: Eine (zumindest zu Beginn ihres Lebens) bekennende Kommunistin hätte der laut Poststrukturalisten doch so „bürgerlichen“ Form des Romans wenig abgewinnen können, und epische Gedichte mit einer Hauptdarstellerin sind in der Literaturgeschichte eh Mangelware – ein Umstand, den die beiden Anne meisterhaft zu ändern vermögen.

Ausziehbare Namen und mangelnde Druckerschwärze

Dass Anne Weber den französischen Schriftsteller Eric Chevillard übersetzt hat, dass beide eine Vorliebe für die verspielte Metafiktion eines Denis Diderot teilen und dadurch der mimetischen Sachlichkeit des Realismus stets den verschrobenen Sprachwitz, die Anspielungen auf die Erzählsituation sowie anachronistische Aktualitätsbezüge entgegensetzen, ist auf fast jeder Buchseite erkennbar: So schimpft die Autorin gegen die ungenaue Zusammenfassung des Klappentexts, macht sich über die „ausziehbaren“ Namen französischer Generäle lustig, unterbricht die Zählung, entlässt Denunzianten frühzeitig aus ihrem Buch („denn so viel Druckerschwärze gibt es nicht, wie nötig wäre, um einen Eindruck ihrer Seelenschwärze zu verschaffen“), schweift immer wieder ab, jongliert spielend zwischen der deutschen und der französischen Sprache oder beendet Abschnitte mit ironischen Kommentaren („Für eine Verfilmung ihres Lebens raten wir sehr zu dieser Szene“).

Überhaupt: Das hier ist sehr deutlich (auch) das Werk einer Übersetzerin: Die Liebe zur (französischen) Sprache scheint an so mancher Stelle durch – wenn Anne Weber dem Leser Begriffe wie „soupe au lait“ veranschaulicht, aber auch, wenn sie etwas die mangelnden Fremdsprachkenntnisse der Franzosen scheltet und so erklärt, was es mit dem Begriff „drôle de guerre“ auf sich hat. (Streckenweise wird der mehrsprachige Leser diese Stellen allerdings etwas redundant finden.)

Diese sprachlichen und erzählerischen Kniffe dienen aber nicht etwa, wie dies zu Zeiten postmoderner Nabelschau manchmal der Fall war, einer rein textimmanenten Selbstverliebtheit: Die Verspieltheit und zahlreichen Aktualitätsverweise erlauben es Anne Weber nicht nur, den Leser in den Bann zu ziehen und vor der Wiederholungsgefahr der Menschheitsgeschichte zu warnen, sondern nehmen ihrer Erzählung die Schwere und das Pathos, die dem epischen Genre eigentlich innewohnen und die, in Kombinierung mit dem Porträt einer wahrhaften, wenn auch ideologisch etwas sturen Heldin, die Erzählung zur bierernsten Hagiografie hätten verkommen lassen.

Kochen oder deportiert werden

Der Autorin gelingt es somit, trotz eines leichten, oftmals unbeschwerten Tonfalls ihre Figur und die Gravitas der Geschehnisse stets ernst zu nehmen, ohne ins Schwülstige der epischen Erzählform zu verfallen. „Annette, ein Heldinnenepos“ ist wohl auch der erste feministische Epos, der den Prozess der Legendenbildung in all seiner aufgesetzten Virilität subtil zu durchbrechen vermag, weil es Weber auch immer wieder darum geht, nicht nur die „condition humaine“, sondern eben auch die „condition féminine“ dieser Zeiten zu umreißen. Annette stellt fest: Die Aufgaben, die man den Frauen im Untergrund anvertraut sind wie auch „sonst im Leben“ „subalterne“ und beschränken sich auf Koch- und Strickrezepte für die Parteizeitung Filles de France, „ihr gutes Recht wäre es (allerdings) gewesen, verhaftet, erschossen oder deportiert zu werden. Auch eine Art der Gleichberechtigung“.

Manchmal sind die Aktualitätsbezüge etwas lehrbuchhaft, und auch die wiederholten Versuche Webers, uns mitzuteilen, wie die Franzosen so drauf sind und welche Widersprüche die selbst deklarierte „Grande Nation“ ausmachen („Wo die Franzosen gehen müssen, bleiben sie“), erscheinen manchmal ein klein wenig karikaturhaft und belehrend – hier wäre etwas weniger mehr gewesen. Dabei ist die Erzählung immer dann am beeindruckendsten, wenn das Anekdotenhafte plötzlich auf historische Gräueltaten hinweist – und die Erzählstimme verstummt.

Die sprachliche Eleganz, die sich in den subtilen Wortspielen widerspiegelt, erlaubt es Weber, auf den letzten Seiten dieses Buches ihrer Begegnung mit und ihre Bewunderung für diese kleine, einsame, krumme Frau auf eine berührende und pathosfreie Weise Ausdruck zu verleihen. So verpackt Weber immer wieder das Große – ein Heldinnenepos, das die blutrünstige Geschichte des 20. Jahrhunderts nacherzählt – in kleinen sprachlichen Details.

Während ihrer ersten Begegnung im Anschluss an eine Filmvorführung – Annette isst Entenbrust, Anne Tintenfisch – fällt der Schriftstellerin auf, dass die damalige Widerstandskämpferin immer wieder eine „private Abwandlung“ der von Franzosen häufig benutzten Wendung „si tu veux“ benutzt: das irgendwie an Italo Calvino erinnernde „wenn du denn dort entlang willst“ – „si tu veux aller par là“. Sowohl Anne Beaumanoir als auch Anne Weber hatten den politischen, literarischen Mut, „dort entlang“ zu wollen. Und der Leser? Der sollte den beiden schleunigst dorthin folgen.

Info

„Annette, ein Heldinnenepos“, von Anne Weber, Matthes & Seitz 2020, 210 Seiten