Am Rande der Wirklichkeits-Darstellung: Fatih Akin, François Ozon und das Abstoßende

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Ozons „Grâce à Dieu“ und Fatih Akins „Der goldene Handschuh“ waren zwei der meisterwarteten Filme der diesjährigen Berlinale. Beide beruhen auf schockierenden wahren Begebenheiten, wählen aber sehr unterschiedliche cineastische Methoden, um sich an das Thema der Repräsentierbarkeit des Abscheulichen heranzuwagen.

Wo Ozon klinisch-nüchtern und empathisch den psychischen und sozialen Verarbeitungsprozess der Traumata von Opfern eines pädophilen Priesters zeigt, lenkt Akin mit viel Blutvergießen, Humor und Schockmomenten den Blick auf einen Massenmörder am äußersten Rande der Gesellschaft.

Hätte man sich durch Zufall im Hamburger der 70er in der Kneipe „Der Goldene Handschuh“ verlaufen, würde man wohl nach einem kurzen Rundblick in die verschiedenen Ecken dieser verlotterten, stinkigen Absteige wieder umdrehen. Es sei denn, man wäre vom Alkoholdunst, der einem dort stets entgegenströmte, bereits so benebelt gewesen, dass man auf dem Tresen neben der heruntergekommenen Klientele, die zu jeder möglichen Uhrzeit immer schon 20 Bier und eine ähnliche Anzahl an Schnaps intus hatte, Platz genommen hätte.

Dort wäre man dann auf eine abstoßende Gestalt gestoßen, die sogar in diesem an abstoßenden Gestalten nicht armen Ort aufgefallen wäre. Fritz Honka ist mit seinem fettigen Haar, seiner dicken knolligen Nase, seinem schiefen unehrlichen Blick und seinen fauligen Zähnen so hässlich, dass die meisten der stets stark alkoholisierten, verlebten Frauen, die sich im Handschuh aufhalten, die Getränke, die er ihnen irgendwann ausgeben möchte, ablehnen: „Einen wie den würde ich doch nicht mal anpissen, wenn er brennen würde“, meint eine von ihm angebaggerte Frau.

Gelingt es ihm dann doch, jemanden – meist sind es besoffene, ältere Prostituierte – mit in seine Wohnung zu nehmen (eine Wohnung, die mit ihren vergilbten Pin-up-Fotos aus billigen Pornoheften, den kitschigen Figuren und Hygiene-Standards, die die schlimmsten Autobahnraststätten im Vergleich als sauber wirken lassen, jeden halbwegs nüchternen Menschen vergraulen würden), füllt er sie mit noch mehr Schnaps ab, vergewaltigt und tötet sie, ohne dass man versteht, woher diese Mordslust überhaupt herkommt.

„Der goldene Handschuh“ erzählt die wahre Geschichte des Massenmörders Fritz „Fiete“ Honka. Beginnen tut der Film in medias res: Honka hat soeben sein erstes Opfer getötet, weiß aber nicht recht, wie und wo er die Leiche entsorgen soll. Anfänglich schleppt er sie durch das Treppenhaus und weckt damit die Tochter der Nachbarn, verscheucht diese dann, um anschließend auf eine unbeholfene Art die Leiche zu zersägen, nur um danach an dem Versuch, die Leichenteile halbwegs diskret in der Umgebung zu verstecken, zu scheitern.

Schließlich entscheidet sich Honka für die widerwärtigste aller Lösungen: Er versteckt die in Stoff eingehüllten Körperteile in einem Hohlraum hinter einer Wand seiner Wohnung.
Was folgt, ist ein gnadenloser Leidensweg einer verruchten, ekelerregenden Gestalt, die sich durch eine genauso verruchte, ekelerregende Gesellschaft säuft, schlägt und meuchelt. Das hier ist kein Darwinismus: Honkas Morden liegt kein Überlebenskampf zugrunde – und sowieso begegnen wir hier nur Leuten, die eigentlich emotional bereits lange dahingeschieden sind und hinter deren gläsernen Augen nur noch sehr wenig Synapsen feuern.

Ästhetik des Abstoßenden

Sein Versagerepos, das ihn in die schlimmsten menschlichen Abgründe führt, kennt Momente der Gnade – hier taucht eine verlorene Figur auf, die sich um Honka kümmern will, da versucht sich Honka an einer ordentlichen Existenz, indem er einen neuen Job sucht und dem Alkohol abschwört. Aber diese Momente sind in einen Prozess des Scheiterns eingebettet, führen bloß zu noch mehr Dekadenz und Gewalt gegenüber den meist regungslosen Frauenfiguren.

Der Film könnte fast als abschreckende Kampagne des Gesundheitsministeriums durchgehen, um vor den verheerenden Folgen regelmäßigen und intensiven Alkoholkonsums zu warnen: Die Figuren sitzen im „Handschuh“ wie in einem Wartesaal der Hölle, die Leute reden nur Stuss, falls sie dann überhaupt noch reden können, die Bar wirkt wie ein Albtraum aus einem Film von Lynch, dem man die Poesie abgestreift hätte – an ihre Stelle tritt ein fast nicht auszuhaltender Nachkriegssozialrealismus (ein tauber Ex-Nazi, der seiner Ideologie stumm nachtrauert, darf natürlich in diesem blutrünstigen Deutschland nicht fehlen), der mit seinen in einer Endlosschleife verklingenden deutschen Schlagern eine Misere zeigt, die man nüchtern fast nicht ertragen kann.

Nach der gefühlt fünfzigsten geleerten Flasche Korn kann man den billigen Schnaps fast riechen, den Film erlebt man wie einen ewig langen Kater. Überhaupt ist der Streifen olfaktorisch ausgerichtet – die Figuren kommentieren ständig den Gestank in Honkas Wohnung, dieser gibt der kulinarischen Exzentrik der Griechen unter ihm die Schuld, der Zuschauer weiß jedoch ganz genau, dass die Wohnung nach Verwesung riecht – so wie der Film auch formal menschliche Verwesung darstellt. Irgendwann wird jedoch auch dem abgebrühtesten Zuschauer einfach nur übel.

Im Endeffekt zieht der Film sein ästhetisches und soziologisches Experiment konsequent und in dem Sinne auch erfolgreich durch. Aber wieso er das tut, das bleibt auch nach dem Abspann unklar. Es fehlt hier an jeglicher Transzendenz, Empathie gibt es im „Goldenen Handschuh“ keine (weder am Tresen noch im Film) – diese Gestalten sind zu kaputt, zu abgestumpft, bei ihnen brennt höchstens noch die Kehle, nachdem der zigste Kornschnaps in den Magen plätschert.

So bleibt letzten Endes ein „OCNI“ („Objet cinématographique non identitfié), ein abstoßender, verstörender, genuin ekliger Film, im Laufe dessen man erstaunlich oft laut auflacht. Letztlich fragt man sich, ob Humor nicht doch hauptsächlich ein biologischer Schutzmechanismus gegenüber der Trostlosigkeit menschlicher Tragödie ist. Vielleicht ist dies die einzige Erkenntnis, die dieser verstörende Film einem bieten kann.

Kirchenkritik ist fast schon zu brav

Im Gegensatz dazu wirkt François Ozons „Grâce à Dieu“ (eine detaillierte Analyse folgt) über die Lawine an Klagen, die von einem braven Katholiken, der sich an die sexuellen Übergriffe eines pädophilen Priesters, die er in seiner Kindheit erleben musste, erinnert, fast schon zu brav. Anders als in Akins Film werden die tatsächlichen Gewaltszenen nur via Erinnerungssequenzen der Opfer angedeutet. Diese enden nach einer Anfangsszene, die einen der zahlreichen Übergriffe zeigt, abrupt, als wisse Ozon, dass man aus Taktgefühl, Empathie und Respekt für die Opfer dieses Unterdrückte nicht auf der Leinwand festhalten kann – so bleibt der Film an der Schwelle des Abgrundes stehen. Das Schamgefühl des Regisseurs löst interessanterweise aber echte Empathie aus, da, wo Akins Film hauptsächlich Ekel hervorruft.

roger wohlfart
13. Februar 2019 - 15.11

Muss ein Kunstwerk, in diesem Fall ein Film, wirklich abstossend sein um zu überzeugen oder auf Missstände, so schlimm sie auch sein mögen, hinzuweisen?