Alter, Körper und andere Geschichten

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„Wie es ist und war“: In den Erzählungen des Briten David Constantine mischt sich die Vergangenheit in die Gegenwart.

Von unserem Korrespondenten Roland Mischke

In den Erzählungen des Briten David Constantine mischt sich die Vergangenheit in die Gegenwart. In „Wie es ist und war“ geht es um alternde Menschen und ihren Umgang mit dem Körper. Der Autor kennt sich in Altersangelegenheiten aus und erzählt natürlich davon.

Priapismus ist keine schöne Erfindung der Evolution. Zwar wünscht sich jeder Mann eine gute Erektion, aber nicht stundenlang. Ein Vikar, der von seiner Frau verlassen wurde, trifft in einem eisigen Abbruchhaus auf eine Flötenspielerin und einen Obdachlosen. Es kommt zu einem irren Tanz, bei dem der Christenmensch versucht, mit seinem Vikarskragen das Geschlecht des Obdachlosen zu bedecken. Noch als alter Mann im Altersheim erinnert sich der Geistliche an den wilden Exzess. Um die Macht der Erinnerungen geht es in den sieben Erzählungen von David Constantine, 73, in „Wie es ist und war“. Sie sind immer mit dem Körperlichen verbunden.

Constantine hat 30 Jahre lang in Oxford deutsche Sprache und Literatur gelehrt und Goethe, Hölderlin, Kleist und Brecht ins Englische übersetzt. In seinen Altersgeschichten geht es ausschließlich um Menschen im fortgeschrittenen Alter, die auf unerhörte Begebenheiten in ihrem Dasein zurückblicken. Lebt ihre Vergangenheit auf, können sie sich ihr nicht entziehen.

Ein alter Mann schnitzt aus Treibholz eine Meerjungfrau, an der das Markanteste ihre Brüste sind. Seine Frau ärgert sich darüber und verlangt, er möge, bevor ihr Damenkränzchen anrückt, der Skulptur die „Titten“ abhobeln. Den Freundinnen erzählt sie von der Obsession ihres Gatten. Gellendes Lachen ertönt hinter der geschlossenen Tür und den Alten treibt die Scham um, weil seine Frau ihn an die anderen Frauen ausgeliefert hat.

Intensiver als der Film

Die stärkste Geschichte ist „Another Country“, als Film mit dem Titel „45 Years“ und den Darstellern Charlotte Rampling und Tom Courtenay ein großer Erfolg und vielfach ausgezeichnet. Doch die erzählte Geschichte ist noch intensiver als der Film, denn Constantine beschreibt darin meisterhaft traumähnliche Bilder, die die traumatische Stimmung des Paars schildern.

Die kinderlose Mrs Mercer hat sich dem Alter verschrieben, dem Rhythmus aus Schlafen, Besorgungen machen, Haushalt, Essen und ruhigen Tagen. Von einem Einkauf zurückgekehrt, trifft sie auf ihren verstörten Gatten. „Man hat sie gefunden“, sagt er. Er spricht von „meiner Katja“, der Liebe seiner Jugend. Die deutsche Jüdin war schwanger von ihm, sie flieht nach Italien und stürzt in den Alpen in seiner Gegenwart ab. Das Paar hat nie darüber gesprochen in seiner langen Ehe, das Unterdrückte wuchtet sich nun zwischen die Ehegatten in ihrer Dauergemütlichkeit im eigenen Haus – und das wenige Tage vor dem 45. Hochzeitstag. Tom muss sich seiner Jugend stellen, er gerät völlig aus der Bahn und kehrt zurück zu den Gefühlen, die er für Katja hatte. Das ist nicht schön für Mrs Mercer, die aber ihrerseits das Unerhörte unterdrückt.

Gespräche über Morgenlatten

In der Geschichte „Unter der Mauer“ zieht ein Künstler mit seiner Frau und der kleinen Tochter in ein Haus unter dem Viadukt eines Staudamms. Bricht die Mauer, hätten die drei keine Chance, den Wassermassen zu entkommen. Die ständige Angst wird gemildert durch Benjamin, den jungen Liebhaber der Frau. Sie hat Sex mit ihm, während der lendenlahme Künstler sich damit begnügt, den Jüngling zu zeichnen.

Constantine kennt sich in Altersangelegenheiten aus. Was amoralistisch erscheint, ist in seinen Erzählungen natürlich. Darum tauschen sich auch zwei ergraute Männer über ihre Morgenlatte aus, die mit einem Bein von einem Tisch oder einem Stuhl verglichen wird. Was früher von Bedeutung war, hat auch noch im Alter Bedeutung. „Nichts ist jemals tot und begraben“, hat der Schriftsteller in einem Interview gesagt.

David Constantine: „Wie es ist und war.“ Erzählungen. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Antje Kunstmann, München, 330 S., 24 Euro.

Jeannosch
3. Januar 2018 - 8.20

Wie es ist, die Senioren werden zum lästigen Anhängsel dieser modernen Welt.Wie es war, die heutigen Senioren haben ihren Anteil an Arbeit geleistet.