/ Alice hinter dem Spiegel
Wenn die modernen Errungenschaften der Technologie eine Droge sind, welches sind ihre Nebenwirkungen? „Black Mirror“ wirft mehrere Blicke hinter den Spiegel moderner Kommunikationsmittel.
Von unserem Redakteur Claude Molinaro
Oben erwähntes Zitat stammt von Charlie Brooker, Drehbuchautor und einer der Produzenten der Netflix-Erfolgsserie „Black Mirror“. Was wäre, wenn böswillige Gruppen oder Individuen sie für ihre Zwecke benutzten, und was wären die Auswirkungen auf die Gesellschaft? Jede Folge treibt einen Aspekt unseres von der Technik geprägten Lebens auf die Spitze, und herausgekommen sind bitterböse Satiren auf die Facebook- und Twitter-Epoche.
Ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, Ihr ganzes Leben hängt davon ab, wie hoch oder wie niedrig ihre Bewertung in den sozialen Medien ist. Technisch möglich wäre es. Ähnlich wie wir bei Websites für Hotelbuchungen Hotels bewerten können, wäre es durchaus denkbar, dass es in den bereits existierenden sozialen Medien die Möglichkeit gibt, Personen zu bewerten.
Social-Media-Ranking entscheidet über bessere Wohnung
Eine solche Welt dachten sich die Macher der Folge „Nosedive“ (dt. „Abgestürzt“) aus. Die Protagonistin Lacie – ein Anagramm von Alice (aus dem Wunderland?) – will in eine andere, bessere Wohnung ziehen. Für das Appartement muss sie jedoch ein „social ranking“ von mindestens 4,5 von 5 möglichen Punkten besitzen. Die Folge beschreibt ihr Bestreben, dies zu erreichen, doch unglückliche Umstände führen zu einem Absturz ihres Rankings und damit zu einem Verlust ihres Lebensstandards. „Nosedive“ wird damit auch zur Morallektion: Hochmut kommt vor dem Fall. Lacie schaute auf die niedrigen Rankings herab, am Ende ist sie selbst unten. Das fast schon krankhafte Bedürfnis einiger Nutzer sozialer Medien, auch die schwachsinnigsten Fotos von der Öffentlichkeit bewerten zu lassen, wird auf die Spitze getrieben, indem der Nutzer selbst zum Objekt des Likens wird.
René Descartes kam 1637 zu der Erkenntnis „je pense, donc je suis“. Dass man aber nur ist, wenn man sozial wahrgenommen wird, hatten andere nach ihm erkannt. Heute sind wir noch einen Schritt weiter: Nur derjenige, der online gemocht wird, existiert, zumindest auf sozialer Ebene.
Am besten lässt sich „Black Mirror“ – trotz der fast 50 Jahre, die zwischen ihnen liegen – mit der US-amerikanischen Serie „Twilight Zone“ aus den 50er und 60er Jahren vergleichen. Beschrieben werden irreale, aber mögliche Situationen in der Gegenwart. Auch wenn es manchmal den Eindruck erweckt, als bewegten sich die Protagonisten in einer dystopischen Zukunft, so sind alle gezeigten technischen Gimmicks bereits im Einsatz. In „Hated by the Nation“ schafft es ein Verbrecher, ein Projekt von künstlichen Bienen – Minidrohnen – für seine Zwecke zu missbrauchen. So werden Menschen, denen via Internet am häufigsten der Tod gewünscht wurde, automatisch von den Drohenbienen getötet. Den Befehl dazu erhalten sie automatisch per Computer. Die künstlichen Insekten sind übrigens das Resultat eines Projekts, das Ersatz für die fast ausgestorbenen Bienen suchte.
(Alb)traumhaftes Flair
Das Gefühl, das die Geschichten in einer unbestimmten Zukunft spielen, wird verstärkt durch die Fotografie und die Farben. Einheitliches Weiß, Grau oder Pastellfarben verleihen einigen Folgen den Flair des Unrealen und des (Alb)Traumhaften. Doch alles wird mit leisem Humor erzählt, allerdings mit einem rabenschwarzen. Drehbuchautor Charlie Brooker ist in Großbritannien als Satiriker bekannt, und so ist es nicht verwunderlich, dass „Black Mirror“ von Ironie und Sarkasmus durchtränkt ist.
Falls es die Kategorie überhaupt gibt, könnte man „Black Mirror“ als fiktive Sozialstudie bezeichnen. Soziale Verhaltensmuster werden übertrieben dargestellt wie z.B. der Drang nach Geltung, nach breiter sozialer Anerkennung durch „likes“. Eine Folge zeigt, wie Hassposts zu Hexenjagden ausufern können. Die Tatsache, dass das Internet nichts vergisst und ein Foto oder ein Kommentar, einmal gepostet, für lange Zeit sichtbar bleibt, wird ebenso weitergesponnen wie die technischen Möglichkeiten von Bewusstseinsbeeinträchtigung.
Rationalismus wird infrage gestellt
Der Rationalismus von Descartes, von dem bereits die Rede war, wird hier so ganz nebenbei auch infrage gestellt, denn die Welt, in der die Protagonisten leben, könnte durchaus einer Maschine und nicht ihrem Hirn entsprungen sein. Online-Spiele und Virtual Reality sind dabei das Mittel par excellence. Wenn wir einmal nicht mehr zwischen mehreren virtuellen Realitäten unterscheiden können, stellt sich unweigerliche die Frage, ob die Wirklichkeit nicht vielleicht nur eine Möglichkeit einer langen Reihe von Realitäten ist. Ist man in einer solchen virtuellen Schleife gefangen, hilft wie bei Computer oft nur das Ausschalten der Maschine beziehungsweise der Tod.
„Black Mirror“ wirft einen Blick hinter die Kulissen des Fortschritts, und geht damit nebenbei auf grundlegende Fragen über das Leben ein. Wie und warum leben wir, und gibt es das Leben überhaupt? In „Matrix“ aus dem Jahre 1999 nahmen sich die Wachowski-Geschwister dem Thema in Form eines Science-Fiction-Films an. „Black Mirror“ braucht keine Science-Fiction, es genügen Gedankenspiele im Hier und Jetzt.
Eine Serie von Kurzfilmen bietet den Vorteil, mehrere Ideen zum gleichen Thema ausloten zu können. Im Gegensatz zu anderen TV-Serien, die momentan zu sehen sind, ist jede Folge von „Black Mirror“ eine abgeschlossene Geschichte, aber stammen alle von verschiedenen Regisseuren. Trotz vielfältiger Herangehensweise haben die Filme der Serie eines gemeinsam: Kultstatus besitzen sie jetzt schon.
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