Fiktion als Köder

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Jeff Schinker über "Das Kongo-Tribunal": Ein Film, der die Grenze zwischen Realität und (Doku-)Fiktion auf ungesehene Weise verwischt.

Oft stimmt ja der Gemeinplatz, Kunst sei gegenüber politischen Zuständen und Ungerechtigkeiten machtlos. Engagierte Kunst manifestiert sich meist dadurch, dass man sich entweder damit begnügt, politisch und ideologisch gefärbte Texte zu verfassen, oder diese Werke durch ein persönliches Engagement verstärkt. Nur selten kann ein Kunstwerk selbst etwas bewirken. Bei Milo Raus fiktionalem „Das Kongo-Tribunal“, das an das Prinzip der Russell-Tribunale angelehnt ist, war alles echt – die Richter, die Anwälte, die Angeklagten und die Schuldigen. Nur der Rahmen war fiktional. Trotzdem verloren die angeklagten Minister später ihre Posten.

Von Jeff Schinker

Kongo gehört zu den reichsten armen Ländern dieses Planeten: Im Laufe des Films erklärt man uns, dass die Bodenschätze des Landes – u.a. Gold und das Coltan, ein Rohstoff, der für die IT-Industrie überaus wichtig ist – in ihrem Wert das BIP ganzer Wohlstandskontinente übertreffen. Weswegen das Land von Großkonzernen, denen das Wohlergehen oder gar das Überleben der lokalen Bevölkerung gleichgültig ist, ausgebeutet wird – so beklagen sich die Kongolesen darüber, dass durch die Anwesenheit der Konzerne ihr Vieh, das einzige wertvolle materielle Gut des Großteils der Bevölkerung, durch deren Abwässer vergiftet wurden.

Die politische Situation als angespannt zu bezeichnen, wäre ein Euphemismus: Rebellentruppen treiben ihr Unwesen, die Armee sorgt nicht für Schutz, sondern für Angst unter der Bevölkerung – im Laufe von Raus Dokumentarfilm wird gezeigt, dass die Armee selbst für Vergewaltigungen verantwortlich ist.
Vor drei Jahren hat der Schweizer Theater- und Filmemacher Milo Rau, der letztes Jahr im IPW in Luxemburg zu Gast war, sein hochpolitisches Theater nach Kongo gebracht – und einen Dokumentarfilm daraus gemacht.

Der Film beginnt damit, dass das Kamerateam quasi zufällig auf ein Massaker in Mutarule trifft. Ein aufgebrachter junger Mann zeigt der Kamera die Blutschlieren, die mit Tüchern bedeckten Leichen, das Trauern und Entsetzen der Bevölkerung. Wer hier von Pathos reden möchte, dem sei wiederholt: Das hier ist eine dokumentarische Fiktion, mit dem Schwerpunkt auf „dokumentarisch“: Das Leiden, die Tränen, die Toten, die Opfer, die Ausbeuter sind allesamt echt. Nur das Tribunal, das ist fiktional.

Was eigentlich (mehr dazu im Kasten) bedeutet, dass alles, was innerhalb dieses fiktionalen Rahmens verhandelt wird, keine Konsequenzen haben dürfte. Denn so definiert sich nun mal die Fiktion: Wenn man im Theater einen Mord sieht, stürmt man nicht die Bühne, um den Täter zur Hilfe zu kommen. Es ist wohl diese Passivität, die Milo Rau stört. Weswegen bei seinem Prozess-Theater, in welches das Kongo-Tribunal sich einreiht, alles anders laufen wird: Rau deckt auf, dass Fiktion nicht ohne Auswirkungen in der Wirklichkeit sein kann, wenn die Teilnehmer sich selbst spielen und schwerwiegende politische und soziale Problematiken verhandeln.

Globale Vernetzung der Ausbeutung

Kurz nach dem tragischen Vorspann werden die Vorbereitungen von Raus Projekt erläutert: Jean-Louis Gilissen, ein belgischer Anwalt, der Bürgerkriegsopfer in Den Haag bei einem Tribunal gegen Kriegsverbrecher vertritt, erklärt sein Engagement, indem er schlicht sagt, man könne sich sicherlich damit begnügen, sich eine gute Existenz – Haus, Frau, Kinder, Job – aufzubauen, dies würde aber angesichts der frappanten Ungerechtigkeiten einfach nicht ausreichen.

Im Laufe des Films werden drei verschiedene Fallbeispiele vor Gericht getragen, die von den skrupellosen Ausbeutungen der Konzerne, der Gleichgültigkeit des politischen Regimes und der skrupellos verübten Massaker zeugen. Die gestellten Fragen am Anfang des Tribunals gehören zu solchen, die normalerweise kollektiv unterdrückt werden: Haben Staat und Armee die Verantwortung, aktiv oder passiv, an den Massakern zu tragen? Wie reguliert der Staat die Ausbeutung der internationalen Multis?

Es werden Augenzeugen von Massakern und Ausbeutung, Rebellen, aber auch Politiker (der Minen- und der Innenminister der Provinz Südkivu) verhört. Wie Milo Rau selbst zugibt, scheint der Moment, in dem der Innenminister auf der Bühne einräumt, dass er indirekt für das Massaker von Mutarule verantwortlich war, fast irreal, wie aus einer Traumsequenz entliehen. Dass der Mann nach dem fiktionalen Prozess seinen Posten aufgeben musste, zeugt wohl davon, dass Fiktion unter gewissen Umständen wohl doch wirksamer sein kann als man im Allgemeinen denkt.

Milo Rau nutzt diese Fallbeispiele, um universelle Gegebenheiten aufzudecken: Letztlich gibt es in diesem Film fast keine Unschuldigen, weshalb auch die Involvierung des Westens schonungslos aufgedeckt wird – sei es durch Passivität (unterlassene Hilfeleistung) oder konkreten Profit, den man aus der Situation ziehen kann.

So zeigt das Kongo-Tribunal, wie die Gesetze gegen sogenannte Konfliktmineralien (es handelt sich dabei um Ressourcen, „deren systematische Ausbeutung und Handel im Kontext eines Konflikts zu schwersten Menschenrechtsverletzungen, Verletzungen des humanitären Völkerrechts oder Verwirklichung völkerstrafrechtlicher Tatbestände führen kann“) eigentlich zu Monopolsituationen führen, die es der EU erlauben, sich diese Rohstoffe zu sichern, weil eine bewusste Kriminalisierung der Produzenten stattfindet.
Im Laufe des Films sieht man, wie das Tribunal im Kongo in einer zweiten Instanz in Berlin wiederholt wurde – hier wurden dann die Mitschuld (durch Passivität und Konsum) der EU und das Versagen der UNO aufgegriffen. Bevor der Film auf verschiedenen Festivals gezeigt wurde, ging Rau mit dem Film zurück nach Kongo, um ihn vor Ort zu zeigen.

Diese Vernetzung zeigt ein Projekt, das in seiner transmedialen (es gibt ein Doku-Game, ein Buch, ein Archiv) und verschachtelten Ausführung auch formal die Komplexität der globalen Situation widerspiegelt, in der eben gerade gut gemeinte Regulierungsprozesse seitens der EU bestenfalls naiv, schlimmstenfalls bewusst monopolisierend wirken.


Die Grenzen der Fiktion

Was ist eigentlich Fiktion? In seinem Werk „Définir la fiction“ überlegt Olivier Caïra über die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, um eine klare, universal gültige Definition der Fiktion aufzustellen. Sobald ein Zombie in einem Text auftaucht, weiß man: Das ist Fiktion, klar. Aber diese Definition ist nicht ausreichend: Texte, die ausschließlich real existierende Personen inszenieren, können fiktional sein (wie das in historischen Romanen der Fall sein kann). Auch die Stilmittel lassen eine klare Definition nicht zu: Eine Fiktion kann sehr wohl die Stilmittel faktischer Berichterstattung nachahmen, so dass die Schreibweise alleine es uns nie erlaubt, die Fiktion von der Realität zu trennen. Caïra kommt schließlich zum Schluss, dass, wie Jean-Marie Schaeffer bereits in „Pourquoi la fiction?“ feststellte, der Rahmen ausschlaggebend ist: Wenn man weiß, dass man es mit einer Fiktion zu tun hat, reagiert man anders als wenn man dies nicht tut. Es braucht das zeremonielle Eintauchen in eine Welt, von der man bewusst gemacht bekommt, dass es sich um eine Fiktionswelt handelt, damit man sich nicht betrogen fühlt: Deswegen wird ein Buchtitel oft von der generischen Markierung „Roman“ begleitet.

Eine Unkenntnis oder ein (möglicherweise absichtliches) Verwischen der Grenzen dieses Rahmens sorgt für Verwirrung: Olivier Caïra erwähnt das Fallbeispiel einer Nachrichtensendung, die 2006 im RTBF die Unabhängigkeit von Flandern ankündigte. Es gab zwar ausreichend fiktionale Markierungen und Hinweise, die Empörung der Leute war nichtsdestotrotz groß: Viele fielen darauf rein, weil man wohl im Zapping-Verfahren oft unkonzentriert in eine Sendung hineinschaut – und eventuell auch den Anfang der Sendung verpasst haben kann.

Im Falle von Milo Raus Tribunal war ein solches Verwischen absichtlich: Der Rahmen (das fiktionale Tribunal) war das einzige Unechte. Dies hat aber wohl dazu beigetragen, dass die wahren Schuldigen zu realen Geständnissen verleitet wurden – man hat sich vielleicht, angesteckt von dem Fiktionsfieber, gesagt, im Laufe des Prozesses sei doch alles bloß „make-believe“. Rau zeigt somit, dass eine klare Definition der Fiktion vielleicht unmöglich ist – weil es eine ständige Feedback-Beziehung zwischen Fiktion und Realität gibt, die Grenzen zwar theoretisch abgesteckt werden können, in der Praxis unser Verstand diese Unterschiede manchmal etwas zu sehr auf die leichte Schulter nimmt.