Deutschland / Zehn-Jahres-Bilanz zu NSU-Konsequenzen: „Mit Verlaub, das reicht nicht“
Das Trio, das als Nationalsozialistischer Untergrund zehn Menschen ermordete, flog vor zehn Jahren auf. Die drei Rechtsterroristen sind tot oder zu lebenslanger Haft verurteilt. Und wie sieht die Bilanz für die Rolle des Staates und seiner Sicherheitsbehörden aus? Nicht nur aus Sicht der Opferangehörigen bleiben zu viele Fragen.
Als sich Thomas Haldenwang an diesem Donnerstag neben Seda Basay-Yildiz setzt, ist er bereits zur Vorwärtsverteidigung entschlossen. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz weiß, dass er mit Mauern und Ausflüchten nur auf der moralischen Anklagebank landen kann, sobald ihn die prominente und versierte Opferanwältin im NSU-Prozess in die Mangel nimmt. Und so reiht der oberste Chef des tief in die Materie verstrickten Inlandsnachrichtendienstes Fehler um Fehler ein, reiht Bedenkliches an Alarmierendes.
An den Anfang stellt er die Verneigung vor den Opfern, nennt jedes beim Namen: „Wir trauern um diese Toten.“ Er denkt an die Familien und Freunde der Opfer, die nicht nur ihre Lieben verloren, sondern auch selbst unschuldig im Fokus der Sicherheitsbehörden gestanden hätten. Die Behörden hätten die Taten nicht verhindern können und vor und nach den Taten viele Fehler begangen. Haldenwang spricht von „Demut“ und dem Vorsatz, daraus für eine verbesserte Arbeit zu lernen. Die größte Bedrohung in Deutschland sei der Rechtsextremismus.
Frage der Finanzierer
Und dann zieht der Verfassungsschutzchef einen großen Bogen von 228 Toten als Opfer rechtsextremistischer Gewalt seit 1990. Er verweist auf 13.300 gewaltbereite Rechtsextremisten mit steigender Tendenz und auf 1.023 rechtsextremistische Gewalttaten mit ebenfalls steigender Tendenz. Er erwähnt Einzelpersonen und Kleinstgruppen, die sich mit Anschlagsplänen befassten. „Wir sehen auch Rechtsextremisten in den Sicherheitsbehörden und in Spezialeinheiten der Bundeswehr“, fügt er hinzu. Er spricht von „zahlreichen“ rechtsextremistischen Konzerten und Kampfsportveranstaltern, durch die sich die Szene finanziere.
Haldenwang geht auf Hass und Hetze im Internet ein und kommt dann auf die „Neue Rechte“ zu sprechen, in der er die Identitäre Bewegung, das Institut für Staatspolitik, die Bewegung „Ein Prozent“, das Compact-Magazin, den Flügel und die Junge Alternative der AfD zusammenfasst. Diese würden ihre „menschenverachtende, fremdenfeindliche und in Teilen antisemitische Ideologie in der Szene verbreiten“. Und er fasst zusammen: „In diesen Personen sehe ich die geistigen Brandstifter für die späteren Taten gewaltbereiter Rechtsextremisten.“ Und deshalb habe der Verfassungsschutz sich selbst reformiert und personell verstärkt.
Die für die Angehörigen entscheidende Frage, ob das Terror-Trio von einem Netzwerk getragen wurde oder nicht, ist nicht beantwortet
Das ist so geballt und so klar, dass Basay-Yildiz das Bedürfnis hat, das „erst mal ein paar Minuten lang verarbeiten“ zu müssen. Doch hinter das Lob für seine Ausführungen fügt sie sogleich einen Appell: „Sie sollen nicht nur an diese Personen denken und mit den Opferangehörigen trauern, sondern Sie sollen Ihr Aufklärungsversprechen einlösen!“ Denn das macht sie schnell klar: Die für die Angehörigen entscheidende Frage, ob das Terror-Trio von einem Netzwerk getragen wurde oder nicht, ist nicht beantwortet. Immer wenn im Zschäpe-Prozess oder in Untersuchungsausschüssen Zeugen hätten weiterhelfen können, sei dies an fehlenden Aussagegenehmigungen gescheitert. Vieles aus dem Umfeld sei im Dunkeln geblieben, weil es nicht zur Beurteilung der Schuld der jeweils Angeklagten gehört habe. Und dann folgen die Verweise auf Kontaktpersonen des Verfassungsschutzes und die Beamten, die deren Tätigkeit dirigierten. Das reicht bis zur dubiosen Rolle eines hessischen Verfassungsschützers, der an einem der Tatorte war und vorher wie hinterher wichtige Telefonate führte. Die entscheidende Akte in Hessen sei für 30 Jahre gesperrt worden. Auch die Rolle des Bundesamtes sei nicht zuletzt wegen des Schredderns wichtiger Akten von Szene-Personen „mehr als zweifelhaft“. Die Zusammenfassung der Anwältin: „Ohne echte Aufklärung dieser Dinge kann es keine Veränderung geben.“
Rassistische Vorurteile
Basay-Yildiz erinnert daran, dass die Ermittler nach den Morden zunächst mit rassistischen Vorurteilen vorgegangen waren und inzwischen Hunderte von rassistischen Chatgruppen in den Sicherheitsbehörden aufgeflogen sind. „Ohne Konsequenzen kann es auch hier keine Veränderung geben“, lautet ihr Fazit. Sie verbindet es mit der Information, dass dies den Angehörigen der Opfer schwer zu schaffen mache und sie enttäuscht habe.
Das vom Mediendienst Integration organisierte Treffen bekommt schnell den Charakter eines längst fälligen Schlagabtauschs. Haldenwang räumt erneut ein, dass auch im Verfassungsschutz „viele Fehler“ begangen worden seien. Sie hätten teils eine strukturelle Ursache, seien aber auch im „pflichtwidrigen“ Verhalten einzelner Beamter begründet. Doch er unterstreicht zugleich, dass der Verfassungsschutz „alle relevanten Unterlagen“ den Untersuchungsausschüssen vorgelegt habe. „Hier ist nichts zurückgehalten worden“, versichert der Präsident. Das Löschen von Akten sei „nicht behördlicherseits veranlasst“ worden, die vernichteten Unterlagen seien in Teilen rekonstruiert worden, doch es blieben Fragen.
„Mit Verlaub, das reicht nicht“, widerspricht Basay-Yildiz. Auch Haldenwang habe ein Ermessen, welche Akten er rausrücke und welche nicht, was er darin schwärze und was nicht, und die Gerichte hätten immer wieder auch Journalisten ein höheres Auskunftsrecht zuerkannt als es der Verfassungsschutz für nötig oder möglich gehalten habe.
Und nun passiert es, dass sich Verfassungsschützer und Anwältin die Bälle gegenseitig zuwerfen. Bei der Auswahl der Tatorte müsse es ortskundige Unterstützer gegeben haben, meint Basay-Yildiz nach ihrer Kenntnis aus 438 Verhandlungstagen gegen NSU-Mitglied Beate Zschäpe. „Da müssen von irgendwo auch noch weitere Geldmittel gekommen sein“, ergänzt Haldenwang. Für ihn ist auch die Motivlage bei der Ermordung der Polizistin Michèle Kiesewetter durch die NSU noch unklar. Und er spekuliert selbst, dass hier „weitere Personen eine Rolle gespielt“ haben könnten.
Wiederholung möglich?
Doch beide verlassen den gemeinsamen Wegesabschnitt auch schnell wieder. Haldenwang zieht sich auf den Schutz von Leib und Leben von V-Leuten zurück, deren Identität nicht bekannt werden dürfe. Basay-Yildiz sagt, dass sie längst bekannt seien. Haldenwang versichert, dass sich etwas wie die jahrelang unentdeckten NSU-Morde heute nicht mehr ereignen könne, Basay-Yildiz bleibt da mehr als skeptisch. Und auch im Umgang mit enttarnten Rechtsextremisten tun sich Meinungsunterschiede auf. Nach vorne gerichtet bleibt vor allem eines: Haldenwang appelliert an die neue Koalition, bei den internen Chats nachzubessern. Auch hier getroffene Aussagen müssten künftig unter Strafe gestellt werden.
Ob die vollständige Kenntnis aller Akten kein neues Licht auf die NSU werfen würde, wie Haldenwang betont, wird wohl erst beurteilt werden können, wenn die Akten ausgewertet werden können. Nach derzeitigem Stand in 30 Jahren.
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