Winter der Unzufriedenheit: Millionen Menschen protestieren in der arabischen Welt

Winter der Unzufriedenheit: Millionen Menschen protestieren in der arabischen Welt
Demonstranten rufen Slogans und schwenken Nationalflaggen während eines regierungsfeindlichen Protestes in der Innenstadt von Beirut.  Foto: Bilal Hussein/AP/dpa

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Die arabische Welt wird von einer neuen Welle an Aufständen überrollt, die nach dem Sudan und Algerien nun auch den Libanon und den Irak erreicht. Die jüngsten Massenproteste in diesen Ländern haben Millionen von Menschen aus allen Gesellschaftsschichten mobilisiert. Sie alle sind verärgert über die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, die aus ihrer Sicht durch Misswirtschaft und schlechte Regierungsführung noch verschärft wird.

Von Ishac Diwan

Wie schon während des Arabischen Frühlings im Jahr 2011 drehen sich die aktuellen Proteste in jedem dieser Länder um Forderungen nach einem Regimewechsel. Doch es besteht auch ein grundlegender Unterschied: Waren die Aufstände der Vergangenheit durch die Sehnsucht der Menschen nach Würde motiviert, so sind die Proteste von heute auf den Hunger der Menschen zurückzuführen. Der Arabische Frühling ist einem strengen Winter der Unzufriedenheit gewichen.

Im Jahr 2011 befanden sich die Ölpreise auf einem Höchststand und viele arabische Volkswirtschaften wiesen das rascheste Wirtschaftswachstum seit Jahrzehnten auf. An der Spitze der damaligen Aufstände standen vorwiegend junge, gut ausgebildete Menschen, die bessere Jobs und mehr Gehör in Politik und Gesellschaft anstrebten. Viele Regierungen in der Region konnten die Aufständischen mithilfe einer durch Öleinnahmen finanzierten expansiven Wirtschaftspolitik, der Unterstützung aus Ländern des Golf-Kooperationsrates und Überweisungen aus dem Ausland beruhigen.

Mit dem Zusammenbruch der Ölpreise 2014 engte sich ein Großteil dieses haushaltspolitischen Spielraums jedoch ein. Zehn Staaten in der Region weisen bereits eine Schuldenquote von über 75 Prozent auf. Mit der Verlangsamung des Wirtschaftswachstums sanken auch die staatlichen Ausgaben und das schürt wirtschaftliche Unsicherheit. Selbst dort, wo man mit der fiskalischen Anpassung gerade erst begonnen hat, kann man sich das alte Modell der Rentenverteilung nicht mehr leisten und die Bevölkerung wendet sich gegen jene Regime, die nicht in der Lage oder nicht bereit sind, überzeugende Reform-Anstrengungen zu unternehmen.

Die Forderungen

Überdies haben die neuen Volksbewegungen in Algerien, im Sudan, im Libanon und im Irak wichtige Lehren aus den Aufständen von 2011 gezogen. Die Demonstranten geben sich nicht mehr nur damit zufrieden, alternde Autokraten aus dem Amt drängen, sondern zielen auch auf Schlüsselelemente des Staates im Staate und auf Sicherheitskräfte ab. In Algerien und im Sudan lehnten sie rasche Neuwahlen ab und forderten stattdessen Zeit für die Organisation neuer Parteien, damit diese eine Chance gegen die lange etablierten islamistischen Organisationen haben.

Zusätzlich weigern sich die Demonstranten von heute, mit den alten Regimen zu verhandeln. Im Falle Algeriens bedeutet die Kombination aus Devisenreserven im Ausmaß von 70 Milliarden Dollar und niedrigen Auslandsschulden, dass sich Protestbewegung und Streitkräfte die Fortsetzung eines Feiglingsspiels leisten können, wobei die Demonstranten auf den Regimezerfall warten und die Streitkräfte auf Demobilisierung beharren. Die Gefahr besteht natürlich darin, dass eine Lösung erst dann gefunden wird, wenn das haushaltspolitische Polster weg ist. Dann werden die Wirtschaftsreformen jedoch viel schwieriger umzusetzen sein.

Im Gegensatz dazu stimmte die demokratische Front im Sudan im August widerwillig einer Vereinbarung über die Machtaufteilung mit dem Militär zu. Die Wirtschaft ist in einem Maße zusammengebrochen, das Zusammenarbeit zur wünschenswerteren Strategie werden ließ. Nun, da die Staatsausgaben auf 8 Prozent des BIP gesunken sind, ist es nicht mehr möglich, dass 60 Prozent dieser Ausgaben weiterhin auf die Armee entfallen. Vorerst wurde eine Technokraten-Regierung mit der Stabilisierung der Wirtschaft beauftragt, wobei man die endgültige politische Lösung allerdings auf die Zukunft verschoben hat. Jetzt bringen sich beide Seiten in Position, um von diesem angestrebten Übergang zu profitieren.

In diesem Sinne ähnelt die Situation im Libanon und im Irak eher der in Algerien als den Umständen im Sudan, doch auch die libanesische und irakische Volkswirtschaft verschlechtern sich rapide. Während der Irak unter rückläufigen Öleinnahmen leidet, wird der Libanon von sinkenden Kapitalzuflüssen, der wichtigsten Quelle des Landes für externe Renten, erschüttert. Durch diese wirtschaftlichen Schocks treten die enormen Kosten der auf konfessionellen Grundlagen beruhenden politischen Systeme in beiden Ländern zutage. Ermutigt werden die von wirtschaftlichen Missständen motivierten Demonstranten durch eine Verbesserung der allgemeinen Sicherheitslage aufgrund der Niederlage des Islamischen Staates und einer Beruhigung im Krieg in Syrien.

In allen vier Ländern ist das Ausmaß des wirtschaftlichen Missmanagements Ausdruck der langjährigen Verwendung der Staatsausgaben zur Finanzierung von Verbündeten und Klienten des Regimes anstatt zugunsten der Gesamtbevölkerung. Diese Regime beherrschen die Privatsektoren durch Vetternwirtschaft – und das nicht nur, um Renten für ihre Klienten zu generieren und zu verteilen, sondern auch um die Entwicklung autonomer Einheiten zu verhindern, die eine Oppositionsbewegung finanzieren könnten. Infolgedessen besteht eine Fehlallokation von Kapital und Kompetenzen, das Geschäftsklima hat sich verschlechtert und Wettbewerb, Innovation sowie Wachstum haben gelitten.

Wirtschaftskrisen

Verschärft wird die Situation im Irak und im Libanon noch durch die Vielfalt der jeweiligen Landesbevölkerungen. Die Regime, die nach dem Bürgerkrieg im Libanon in den 1990er-Jahren und nach der von den USA angeführten Invasion im Irak in den frühen 2000er-Jahren entstanden, beruhen auf Machtverteilungsabkommen zwischen konfessionellen Oligarchen, die ihre Positionen durch Unterdrückung und Klientelismus behaupten. Diese Koalitionen hatten so lange Bestand, wie es unter den jeweiligen Klienten der Parteien genug zu verteilen gab.

Doch angesichts sinkender Renten konnten sich die Parteien nicht auf die Verteilung der Verluste einigen und haben sich stattdessen verzweifelt auf die verbliebenen Ressourcen gestürzt, wodurch eine Wirtschaftskrise ausgelöst wurde. Im Libanon werden die Kosten dieser Torheit nun von einem bereits instabilen Finanzsektor getragen, der implodieren könnte.

Schließlich hat auch die regionale geopolitische Dynamik in der libanesischen und irakischen Innenpolitik eine Rolle gespielt. In beiden Ländern verfügen vom Iran unterstützte politische Gruppen über Kampfkraft, erwiesen sich bisher aber als nicht in der Lage, einen allgemein akzeptablen Gesellschaftsvertrag zu entwickeln, der ihnen die Konsolidierung ihrer politischen Position ermöglichen würde.

Was als Nächstes kommt, ist völlig offen

Jedenfalls gewinnt die Geschichte in Algerien, im Sudan, Libanon und Irak an Dynamik. Die Öleinnahmen im gesamten Nahen Osten sind seit 2014 um etwa ein Drittel gesunken, sodass autokratische Regime weniger Ressourcen zur Finanzierung des Klientelismus zur Verfügung haben. Mit Beginn des Winters 2020 wird diese neue Welle der öffentlichen Unzufriedenheit wahrscheinlich noch anschwellen und andere Länder erfassen. Die Herausforderung für jeden dieser Staaten wird darin bestehen, einen Weg in Richtung eines politischen und wirtschaftlichen Übergangs zu finden, der die Demonstranten zufriedenstellt und Bedingungen schafft, die zu weitverbreitetem Wohlstand führen.

Bislang allerdings greifen alternde Regime auf vollständige Unterdrückung zurück, wenn sie sich mit Volksbewegungen konfrontiert sehen, die einen gerechteren und produktiveren Gesellschaftsvertrag fordern. Das hat die Bevölkerung bisher jedoch nur ermutigt, noch mehr Zugeständnisse zu fordern. Was als Nächstes kommt, ist völlig offen. Noch hat kein arabisches Land einen glaubwürdigen Weg in die Zukunft gefunden – nicht einmal das sich demokratisierende Tunesien, wo die Aufstände 2011 ihren Ausgang nahmen.

* Ishac Diwan ist „Chaire d’excellence Monde arabe“ an der „Paris Sciences et Lettres“ sowie Professor an der „Ecole normale supérieure“ in Paris. Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier. Copyright: Project Syndicate, 2019. www.project-syndicate.org