Russland / Wie Putin das Gedenken an den Sieg 1945 missbraucht: Vom „Tag des Sieges“ zum „Tag des Krieges“

Russische MiG-29-Kampfjets im Tiefflug über Moskau: Die diesjährige Feier soll noch pompöser ausfallen als sonst (Foto: AFP/Kirill Kudryawtsew)
Der 9. Mai sei heilig für Russland, sagt Wladimir Putin. Mit dem Gedenken an den Zweiten Weltkrieg macht der Kreml Politik und instrumentalisiert es zur Rechtfertigung des Krieges in der Ukraine.
Moskau ist dieser Tage in ein tiefes Rot getaucht. Riesige Flaggen, die über zwei Etagen reichen, hängen an den Hochhäusern zentraler Straßen. An den Brücken flattern Banner im Wind, „Pobeda“ ist in Weiß auf Rot darauf gedruckt. Sieg. Es ist ein Wort und ein Wert, an die sich das Land, die Führung wie das Volk, klammert. Russland sei eine Siegesnation, brüllen die Propagandisten. Der Sieg sei heilig, sagt der russische Präsident Wladimir Putin seit Jahren. Sein Land werde immer nur Siege einfahren. So mancher Kritiker im Land wünscht sich in der Ukraine derweil eine russische Niederlage, um Russlands Kult des Sieges, den Kult der Gewalt zu durchbrechen.
Nervosität ist in die Stadt gezogen. Gerüchte von einer Generalmobilmachung machen sich breit, auch Gerüchte, dass der Kreml womöglich ukrainische Kriegsgefangene über den Roten Platz werde treiben lassen. Das verstieße zwar gegen die Genfer Konventionen, präzedenzlos wäre allerdings auch dieses Gräuel nicht. Bereits 2014 hatten die von Moskau unterstützten „Separatistenführer“ im besetzten Donezk 50 ukrainische Kriegsgefangene vorgeführt. Kommentatoren, kremlloyale wie kremlkritische, fragen sich, was ihr Präsident am kommenden Montag verkünden wird. Den Sieg? Doch welchen? Über die Einnahme des durch die russische Armee völlig zerstörten Mariupol? Eine neue staatliche Ordnung im Donbass und in der Südukraine? Ultimaten an den Westen? Den Einsatz atomarer Waffen gar?
Einst Trauer, jetzt Pomp
Am 9. Mai geht es längst nicht mehr um die Trauer der 27 Millionen sowjetischer Gefallenen im „Großen Vaterländischen Krieg“, wie die Russen den Zweiten Weltkrieg bezeichnen. Es geht um Pomp und Triumph. Es geht um „Wir können es wiederholen“, die Losung, die Rotarmisten einst an die Säulen des Reichstags in Berlin geschrieben hatten und die durch den Krieg in der Ukraine, die Russland euphemistisch „militärische Spezialoperation“ nennt, keine leere Drohung mehr ist.
Der Sieg der Roten Armee über das Nazi-Deutschland, den das Land nicht am 8. Mai feiert, weil die bedingungslose Kapitulation in Berlin in der Nacht unterzeichnet wurde und in Moskau da bereits der 9. Mai angefangen hatte, er eint die Menschen in Russland – und darüber hinaus – auf eine besondere, ja eine schmerzhafte Weise. Jede Familie im Land hat ihre Vorfahren zu betrauern, als Gefallene, Kriegsversehrte, als angebliche Verräter in den Gulag Gekommene.
In diesem Jahr zelebriert Russland keinen Frieden, es zelebriert den Krieg, verkauft ihn allerdings prächtig leugnend als Frieden
Dieser Sieg ist ein identitätsstiftender Moment, in dem sich jeder findet, egal, welcher politischer Überzeugung er ist. Bis in die späte Sowjetzeit hinein war der 9. Mai ein trauriger Tag. „Nie wieder“, sagten die Überlebenden zu ihren Nachfahren mit Tränen in den Augen. „Frieden“ war die Botschaft, von Kindesbeinen an. Nun singen die Kleinen in den Kindergärten quer durchs Land Kriegslieder und lassen sich in Z-Formationen aufstellen, um der Kriegslüsternheit des Staates in entwürdigender Weise zu huldigen. In diesem Jahr zelebriert Russland keinen Frieden, es zelebriert den Krieg, verkauft ihn allerdings prächtig leugnend als Frieden.

Moskau hat die diesjährige Feier noch pompöser angelegt, auch wenn kein einziger ausländischer Staatsgast eingeladen wurde, weniger Menschen über den Roten Platz marschieren werden, weniger Militärtechnik über das Kopfsteinpflaster rollen wird und auch die regionalen Paraden bescheidener ausfallen. Es zählt die Inszenierung, zählt das offizielle Narrativ vom stetigen Kampf der Russen gegen fremde Mächte von außen, die ihr Land über Jahrhunderte hinweg zu knechten versucht hätten.
Der Kreml kapert und kontrolliert die Erinnerung, er macht mit dem vereinfachten, plakativen Wissen über den Zweiten Weltkrieg Politik. Putin hat Geschichte zur treibenden Kraft seines Handelns gemacht und legitimiert dieses damit. „1941-2022“ steht derzeit auf manchen Plakaten, so als befände sich Russland immer noch im Krieg, als hätte der Kampf gegen das absolute Böse, den Faschismus, nie aufgehört. Indem Moskau alle Ukrainer, die die offizielle russische Politik infrage stellen, zu „Nazis“ erklärt, missbraucht es das Gedenken an den Sieg 1945 als Rechtfertigung seines Krieges in der Ukraine und pflegt mit seiner neuen Swastika, dem Z, eine Ideologie der Zerstörung.
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