Wie Großbritannien mit wachsender Vereinsamung umgeht

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„Jeder kennt einen Menschen, der einsam ist“, sagt Emily Forbes. Die 33-Jährige kennt besonders viele einsame Menschen. Sie ist eine von rund 160 Angestellten der Silver Line, Großbritanniens Hotline für einsame Senioren. Forbes und ihre Kollegen sind 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche vor allem mit einer Sache beschäftigt: Zuhören.

Die Telefonnummer der Silver Line haben seit der Gründung 2013 mehr als 1,5 Millionen Menschen gewählt. Pro Woche erhalten Forbes und ihre Kollegen über 10.000 Anrufe. Gegründet wurde die Hotline von der britischen Moderatorin Esther Rantzen, Schirmherrin ist Herzogin Camilla, die Frau von Prinz Charles.

Vereinsamung ist großes Problem

Manche Geschichten, die Forbes täglich hört, seien kaum zu ertragen, berichtet sie. Viele Anrufer seien verzweifelt, manche würden über den Tod nachdenken. „Es ist wichtig, dass wir in der Lage sind, uns von den Menschen an der anderen Seite der Leitung abzugrenzen. Diese Dinge können dich beeinflussen. Deshalb können wir nach Feierabend hier mit Spezialisten sprechen, damit wir das Gehörte nicht mit nach Hause nehmen.“

Besonders einsam fühlten sich ihre Anrufer in den Abendstunden, sagt Forbes. Die Nachfrage sei in den vergangenen Jahren stetig gestiegen: „Wir hatten im Januar acht Prozent mehr Anrufe als im Januar 2017.“ Dass Vereinsamung in Großbritannien ein großes Problem ist, hat inzwischen auch die Regierung erkannt. Die Parlamentarische Unterstaatssekretärin für Sport, Tracey Crouch, hat seit Januar einen zusätzlichen Arbeitsbereich: Einsamkeit.

Etwa 200.000 Senioren hätten höchstens einmal im Monat ein Gespräch mit einem Freund oder Verwandten, mindestens neun Millionen Menschen gäben an, einsam zu sein, erklärt Crouch der Deutschen Presse-Agentur. Dies sei aber kein Thema, das nur Briten betreffe. „Es ist ein Problem, das Leben weltweit beeinflusst. Deshalb will ich jedes Land dazu motivieren, Lösungen zu finden, die Einsamkeit bekämpfen und Gesellschaften zu schaffen, die inklusiver und belastbarer sind.“

London ist besonders einsam

Der neue Posten wurde auf Empfehlung eines Berichts der Jo-Cox-Kommission für Einsamkeit gegründet. Die Labour-Politikerin Cox hatte sich bis zu ihrer Ermordung im Juni 2016 für einsame Menschen eingesetzt. Geplant ist unter anderem die Entwicklung einer offiziellen Regierungsstrategie gegen Einsamkeit und ein System, um die Vereinsamung altersübergreifend messen zu können. Besonders in London ist Einsamkeit ein großes Thema. Laut einer Umfrage des britischen Magazins Timeout gaben hier mehr Leute an, sich manchmal einsam zu fühlen, als in anderen Großstädten wie New York oder Dubai.

Auch vielen Deutschen, die in London leben, geht es so. Florian Helmlinger aus Heidelberg ist seiner Freundin zuliebe nach London gezogen. Obwohl das Paar zusammen wohnt, fühlt sich der 32-Jährige oft einsam: „Ich verbringe täglich zwei Stunden in der U-Bahn und dem Zug. Meine Arbeitskollegen wohnen am anderen Ende der Stadt. Nach der Arbeit noch etwas zu unternehmen, ist schwierig“ sagt er. Die Berlinerin Sandra Bösemüller kann sich deshalb nicht vorstellen, auf Dauer in London zu leben: „Es ist schwierig, Kontakte zu knüpfen, weil alles so extrem schnelllebig ist. Das ist die vierte Stadt, in der ich lebe, und hier finde ich es besonders langwierig, jemanden wirklich kennenzulernen.“

Vor allem Senioren leiden

Während sich in London junge Menschen durch Arbeitsstress und die Anonymität der Großstadt einsam fühlen, sind es landesweit vor allem Senioren, die leiden. Bei der Silver Line gehen Emily Forbes besonders Geschichten von Menschen nahe, die sie an ihre eigenen Großeltern erinnern: „Meine Großmutter ist 95 Jahre alt und war ihr ganzes Leben eine starke und unabhängige Frau und konnte mit 90 sogar noch Skype bedienen. Nach einem Sturz ist sie nun auf Hilfe für die einfachsten Dinge angewiesen. Das ist unglaublich schwer für sie.“

Trotzdem sei es ein enormes Privileg, den Geschichten anderer Menschen lauschen zu dürfen, findet Forbes. Viele der älteren Anrufer könnten auf ein bewegtes Leben zurückblicken und hätten interessante Geschichten zu erzählen: „Ich lerne viel mehr von diesen Menschen an der anderen Seite der Leitung als die von mir“, sagt sie. Doch so sehr sie ihren Job auch mag, wenn Forbes abends nach Hause kommt, braucht sie erst mal eine Pause: „Meine bessere Hälfte arbeitet von daheim und spricht im Gegensatz zu mir den Tag über nicht besonders viel. Bevor ich erzählen kann, wie mein Tag war, brauche ich immer erst mal eine halbe Stunde Ruhe. Dann bin ich wieder gesellig.“