Ukraine-Krieg / Wie ein schräger Blogger und Impfgegner zu Putins Statthalter im besetzten Cherson wurde
Kyrill Stremoussow stänkerte auf YouTube gegen Selenskyj und die Pandemie und machte auch schon mal auf Öko-Aktivisten. Inzwischen hat ihn der Kreml zum Vize-Gouverneur über die Oblast Cherson ernannt. Das Gebiet in der Ukraine soll sich bald Russland anschließen. Das sieht auch Stremoussow so. Für Kiew ist er ein Verräter.
Eine Woche lang dauerte Kyrill Stremoussows YouTube-Höhenflug: Seit der Blogger aus Cherson in den ersten Mai-Tagen den russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin offiziell um den Anschluss seiner Stadt und des Umlandes an die Russische Föderation gebeten hat, wurde sein Kanal belagert.
Nun hat die amerikanisch-ukrainische Verschwörung zugeschlagen, wie Stremoussow sagen würde, und seine putzigen Do-it-yourself-Videos sind weg. Rund 80.000 Abonnenten hatte der Mittvierziger im Mai; manche seiner Filmchen wurden Hunderttausende Male angeschaut, viele davon allerdings nur 2.000 Mal.
Video-Blogs aus dem Krieg
Dabei half Stremoussow seine Position in der Gebietsverwaltung der russischen Besatzer: Der 2020 legal und demokratisch gewählte Stadtrat wurde von den Russen nämlich zum Vize-Gouverneur befördert, nachdem sich das direkt an die von Russland bereits 2014 annektierte ukrainische Halbinsel Krim grenzende Gebiet bereits in den ersten Tagen der russischen Invasion in die Ukraine fast kampflos ergeben hatte. Nur im Stadtzentrum von Cherson wurde Ende Februar noch gekämpft. Noch war damals der Kiew-treue Bürgermeister im Amt. Stremoussow zeigte sich in diesen Tagen in einem kurzen Videoblog mit seinem erst mehrere Monate alten Sohn in einer geräumigen, neuen Wohnung. „Wir sind in Sicherheit, habt keine Bange“, wandte er sich an seine Fans. Der Vater alberte mit seinem Kind im roten Pyjama herum, im Hintergrund war die Mutter zu hören. Familienidylle bei einem pro-russischen Aktivisten, der sich irgendwo in Sicherheit gebracht hatte, unklar ob auf der Krim oder in Moskau. Jedenfalls in einer schönen, sauberen, fast leeren Wohnung. „Wartet ruhig ab, was passiert! Schaut gut zu!“, riet Kyrill Stremoussow, ein stattlicher Mann mit hagerem Gesicht.
Zehn Wochen später blickte Stremoussow bereits seltsam aufgedunsen in seine eigene Kamera und lobte die russischen Siegesfeiern über die Hitler-Faschisten im Zweiten Weltkrieg am 9. Mai. Als Zuschauer hatte man das ungute Gefühl, der fast schon sympathische Blogger sei mit Psychopharmaka vollgepumpt worden. Stremoussow erinnert in dem YouTube-Video an den vor Jahresfrist in Minsk von den Sicherheitsdiensten gefolterten belarussischen Blogger Raman Pratassewitsch, der aus einem Ryanair-Flug von Athen nach Vilnius geholt worden war.
Dies erstaunt nicht, denn noch am 25. Februar, also am Tag 2 der angeblichen „Befreiung“ des Gebiets Cherson „von den ukrainischen Faschisten“, konnten Stremoussows YouTube-Fans mit ihm im Pkw durch die Stadt fahren und sich den Krieg am Bildschirm von nahem anschauen. „Seht her, es hängen hier keine russischen Flaggen“, erklärte der Blogger am Steuerrad, „denn hier ist die Ukraine“. Er sei zwar ein Oppositioneller, ein erbitterter Feind von Wolodymyr Selenskyj, doch Cherson liege in der Ukraine, sagte der frühere Kyrill Stremoussow, jener mit dem hageren Gesicht.
Inzwischen allerdings werden im ukrainischen Staatsfernsehen vor allem zwei Stremoussow-Kurzvideos gezeigt. Auf dem einen sitzt er in einem T-Shirt in Rot-Weiß-Blau mit dem russischen Doppeladler am Tisch und beteuert immer wieder, er habe niemanden verraten. Auf dem andere sieht man Stremoussow unter einem Putin-Porträt. Wegen Hochverrats angeklagt wurde der Stadtrat bereits am 17. März von der ukrainischen Staatsanwaltschaft. Tags zuvor hatte sich der Kiew-kritische Blogger gegenüber russischen Medien als Vorsitzender des lokalen „Rettungskomitees“ präsentiert. Inzwischen hat ihn der Kreml zum Vize-Gouverneur ernannt. Als solcher ist er weit präsenter und bekannter als der Gouverneur, den eigentlich keiner kennt.
Denn Stremoussow war als eher harmloser Spinner stadtbekannt. Mal zog er mit Rucksack durchs Land, mal machte er auf aufrechten Öko-Aktivisten. Bei den Parlamentswahlen vom Sommer 2019 stellte er sich gleich selbst als Kandidat auf und pinselte assistiert von einem einzigen Wahlhelfer seinen Slogan „Wähle die Gerechtigkeit!“ an die Außenmauern des Nord-Krim-Kanals, der bis 2014 Süßwasser aus dem Dnipro-Fluss auf die besetzte Halbinsel brachte und das ganze Gebiet deshalb für Moskau und Kiew strategisch wichtig macht. Kyrill Stremoussow scheiterte bei den Wahlen mit 1,74 Prozent der Stimmen haushoch. Ein Jahr später aber reichte es immerhin für den Einzug in den Stadtrat der südukrainischen 250.000-Einwohner-Stadt.
Gegen Corona-Pandemie und Selenskyj
Geholfen hatte Stremoussow dabei die Corona-Pandemie, die auch seinen oppositionellen Nischenkanal in gewissen Impfgegner-Kreisen bekannt machte. Fast täglich berichtete der Corona-Leugner über den angeblichen Genozid am Volk durch die jüdisch-kapitalistische Corona-Verschwörung. Stremoussow weigerte sich konsequent, eine Gesichtsmaske zu tragen und behauptet einmal, Covid-19 gäbe gar es nicht, dann wieder sagte er, die Corona-Pandemie werde von der Kiewer Regierung und Staatspräsident Selenskyj bewusst im Gebiet Cherson verbreitet. Putin übrigens ließ in dieser Zeit auf Hochtouren den Impfstoff „Sputnik V“ entwickeln, isolierte sich bei bilateralen Treffen ansteckungssicher durch einen 19 Meter langen Tisch und ließ seine Untertanen in Russland impfen. Stremoussow hörte damals offenbar weder auf den russischen noch den ukrainischen Staatspräsidenten.
Nun aber hat sich das alles geändert. Stremoussow sieht deutlich weniger gesund aus als während der Pandemie, und er bellt pro-russische Parolen. Den Ausschlag mag jener inzwischen leider ebenso verschwundene YouTube-Film über das Verhör eines angeblichen „Verräters“ von Anfang März gemacht haben: Von Stremoussow im schummrigen Licht ausgequetscht gesteht der hagere junge Mann mit gesenktem Kopf vor einer ukrainischen Flagge, schon lange mit dem Kiewer Geheimdienst SBU zusammenzuarbeiten. Dieses Video muss dem Kreml gefallen haben, allen voran dem ehemaligen KGB-Offizier Putin.
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