ForumWie die Wahrheit in einem Meer der Irrelevanz ertrinkt: Das Ende realer sozialer Netzwerke

Forum / Wie die Wahrheit in einem Meer der Irrelevanz ertrinkt: Das Ende realer sozialer Netzwerke
 Foto: AP/dpa/Mary Altaffer

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Mittlerweile starren nicht nur Milliarden Menschen weltweit auf ihre Mobiltelefone, auch die Informationen, die sie konsumieren, haben sich dramatisch verändert – und das nicht zum Besseren.

Im Falle führender Social-Media-Plattformen wie Facebook haben Forschende dokumentiert, dass sich Unwahrheiten schneller und weiter verbreiten als ähnliche Inhalte mit korrekten Informationen. Zwar fordern die Nutzer diese Desinformationen nicht ein, aber die Algorithmen – die bestimmen, was die Menschen zu sehen bekommen – favorisieren tendenziell reißerische, unrichtige und irreführende Inhalte, weil diese für „Engagement“ und damit für Werbeeinnahmen sorgen.

Wie der Internetaktivist Eli Pariser im Jahr 2011 feststellte, schafft Facebook Filterblasen, in denen Einzelpersonen häufiger mit Inhalten konfrontiert werden, die ihre ideologischen Präferenzen verstärken und ihre Vorurteile bestätigen. Und neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass dieser Ablauf großen Einfluss auf die Art der Informationen hat, die die Nutzer sehen.

Doch auch jenseits der von Algorithmen gefällten Entscheidungen auf Facebook ermöglicht das umfassendere Ökosystem der sozialen Medien es den Menschen, ihren Interessen entsprechende Untergruppen zu finden. Das muss nicht unbedingt schlecht sein. Wenn man in seinem Umfeld die einzige Person mit Interesse an Ornithologie ist, kann man das ändern und sich mit Ornithologie-Begeisterten aus der ganzen Welt zusammenschließen. Das Gleiche gilt freilich auch für den einsamen Extremisten, der dieselben Plattformen nutzen kann, um Hassbotschaften und Verschwörungstheorien zu verbreiten.

Drehscheibe für Hass und Desinformation

Es ist unbestritten, dass Social-Media-Plattformen eine bedeutende Drehscheibe für Hassbotschaften, Desinformation und Propaganda bieten. Reddit und YouTube bilden einen Nährboden für Rechtsextremismus. Die Oath Keepers nutzten vor allem Facebook, um ihre Mitwirkung bei dem Angriff auf das Kapitol am 6. Januar 2021 zu organisieren. Die muslimfeindlichen Tweets des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump haben nachweislich die Gewalt gegen Minderheiten in den USA angeheizt.

Zwar hält man derartige Beobachtungen mancherorts für alarmistisch und verweist darauf, dass große Akteure wie Facebook und YouTube (das Google/Alphabet gehört) weit mehr zur Überwachung von Hassbotschaften und Desinformation tun als ihre kleineren Konkurrenten, insbesondere jetzt, da bessere Moderationsverfahren entwickelt wurden. Außerdem stellen andere Forschende den Befund infrage, wonach sich Unwahrheiten auf Facebook und Twitter schneller verbreiten, zumindest im Vergleich zu anderen Medien.

Wieder andere meinen, dass das derzeitige Umfeld in den sozialen Medien zwar seine Tücken birgt, das Problem aber vorübergehend sei. Schließlich wurden neuartige Kommunikationsmittel schon immer missbraucht. Martin Luther nutzte die Druckerpresse nicht nur, um den Protestantismus zu verbreiten, sondern auch einen virulenten Antisemitismus. Das Radio erwies sich in den Händen von Demagogen wie dem amerikanischen Priester Father Charles Coughlin und den Nazis in Deutschland als machtvolles Werkzeug. Sowohl Printmedien als auch Rundfunk sind bis heute voll mit Fehlinformationen, doch die Gesellschaft hat sich an diese Medien angepasst und es geschafft, deren negativen Auswirkungen in Grenzen zu halten.

Dieses Argument bedeutet implizit, dass es mit einer Kombination aus stärkerer Regulierung und anderen neuen Technologien gelingen kann, die Herausforderungen im Bereich sozialer Medien zu überwinden. Beispielsweise könnten die Plattformen bessere Informationen zur Herkunft der Artikel bereitstellen oder man könnte sie davon abhalten, mit Algorithmen Artikel in den Vordergrund zu rücken, die hetzerisch sind oder Desinformationen enthalten.

Künstliche statt realer Netzwerke

Derartige Maßnahmen verkennen allerdings die Tragweite des Problems. Soziale Medien schaffen nicht nur Echokammern, propagieren Unwahrheiten und erleichtern die Verbreitung extremistischer Ideen, sondern erschüttern möglicherweise auch die Grundlagen menschlicher Kommunikation und des sozialen Zusammenhalts, indem sie künstliche soziale Netzwerke an die Stelle realer Netzwerke setzen.

Wir unterscheiden uns von anderen Tieren vor allem durch unsere hochentwickelte Fähigkeit, von unserem Umfeld zu lernen und durch die Beobachtung der anderen Kompetenzen zu erwerben. Unsere tiefgreifendsten Gedanken und wertvollsten Konzepte entstehen nicht in der Isolation oder durch die Lektüre von Büchern, sondern durch unsere Einbettung in ein soziales Milieu und Interaktion aufgrund von Argumentation, Bildung, Leistung und so weiter. Zuverlässige Quellen spielen in diesem Prozess eine unverzichtbare Rolle, weshalb Führungspersönlichkeiten und Inhaber hoher öffentlicher Positionen derart umfassende Wirkung erzielen können. Frühere Innovationen im Medienbereich machten sich dies auch zunutze, doch keine davon veränderte das Wesen menschlicher Netzwerke in der Weise, wie es die sozialen Medien tun.

Was passiert, wenn Plattformen wie Facebook, Twitter oder Reddit anfangen, jene Struktur zu manipulieren, die wir als unser soziales Netzwerk wahrnehmen? Die beunruhigende Wahrheit besteht darin, dass es niemand weiß. Und obwohl wir uns letztlich an diesen Wandel anpassen und Methoden finden könnten, um dessen schädlichste Wirkungen zu neutralisieren, sollten wir uns angesichts der Richtung, in die sich die Branche entwickelt, nicht darauf verlassen, dass es dies auch gelingt.

Zersetzende Effekte

Die zersetzenden Effekte der sozialen Medien nehmen allmählich genau jene Formen an, wie sie Kulturkritiker Neil Postman vor fast vier Jahrzehnten in seinem bahnbrechenden Buch „Wir amüsieren uns zu Tode“ vorhersah. „Die Amerikaner sprechen nicht mehr miteinander, sie unterhalten einander“, so seine Beobachtung. „Sie tauschen keine Gedanken aus; sie tauschen Bilder aus. Sie argumentieren nicht mit Sätzen; sie argumentieren mit gutem Aussehen, Prominenz und Werbesprüchen.“

In einem Vergleich zwischen George Orwells „1984“ und Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ fügt Postman hinzu: „Was Orwell fürchtete, waren diejenigen, die Bücher verbieten würden. Was Huxley befürchtete, war, dass es keinen Grund geben würde, ein Buch zu verbieten, denn es würde niemanden geben, der eines lesen wollte. Orwell fürchtete diejenigen, die uns Informationen vorenthalten würden. Huxley fürchtete diejenigen, die uns so viel geben würden, dass wir auf Passivität und Egoismus reduziert würden. Orwell befürchtete, dass die Wahrheit vor uns verborgen bleiben würde. Huxley befürchtete, dass die Wahrheit in einem Meer der Irrelevanz ertrinken würde.“

Obwohl Postman eine Zukunft Huxley’scher Prägung mehr fürchtete als eine orwellianische, haben soziale Medien beide Szenarien gleichzeitig eingeläutet. Während Regierungen sich die Mittel aneignen, um sowohl unsere Wahrnehmung der Realität zu manipulieren als auch, um uns auf Passivität und Egoismus zu reduzieren, überwachen unsere virtuellen „Freunde“ zunehmend unsere Gedanken. Man muss mittlerweile ständig seine Tugend unter Beweis stellen und Menschen anprangern, die von der vorherrschenden Orthodoxie abweichen. Doch was diese „Tugend“ ist, wird vom künstlichen sozialen Online-Umfeld definiert und in vielen Fällen beruht das ausschließlich auf Lügen.

Hannah Arendt, eine weitere Vordenkerin des 20. Jahrhunderts, warnte vor den möglichen Folgen. „Wenn man ständig von allen angelogen wird, ist die Konsequenz nicht, dass man die Lügen glaubt, sondern dass niemand überhaupt noch irgendetwas glaubt.“ An diesem Punkt wird gesellschaftliches und politisches Leben unmöglich.

* Daron Acemoglu ist Professor für Wirtschaftswissenschaften am MIT und Koautor der gemeinsam mit James A. Robinson verfassten Bücher „Warum Nationen scheitern: Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut“ (Profile, 2019) sowie „Gleichgewicht der Macht: Der ewige Kampf zwischen Staat und Gesellschaft“ (Penguin, 2020).

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