Tageblatt-WM-KolumneWie die FIFA unser Zeitgefühl in die Tonne kloppte

Tageblatt-WM-Kolumne / Wie die FIFA unser Zeitgefühl in die Tonne kloppte
14 Minuten Nachspielzeit: Seit 2022 im Preis mit drin Foto: Martin Rickett/dpa

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Man kennt sie, die mitteleuropäische Durchschnitts-Blase. Während (vieler) Jahre darauf trainiert, eine Halbzeit ohne größere Komplikationen zu überstehen. Völlig unabhängig von der Zufuhr an Getränken, die bei Fußballspielen nun einmal erforderlich ist. Denkste! Die FIFA setzt bei der aktuellen Weltmeisterschaft neue Maßstäbe in puncto Durchhaltevermögen und pocht auf XXL-Nachspielzeiten. Während das den einheimischen Fans bei ihrem Stadionbesuch wohl nicht so sehr auffällt – da sie bei Schlusspfiff bereits durch die Mall schlendern –, steht der Otto Normal-Zuschauer jedes Mal vor einer harten Bewährungsprobe. Aus 45 werden inzwischen mal locker 55 bis 60 Minuten pro Hälfte. 

Der Weltverband hat die Sündenböcke für diese Quälerei der Fans auch schon ausgemacht: diese Nationalhelden und ihre verdammten, übertriebenen und eigentlich auch völlig überflüssigen Torjubel. Der emotionale Aufschrei vor der Fankurve, die Spielertraube, der Weg zurück in die eigene Hälfte – all dies kostet eine Begegnung bis zu eineinhalb Minuten, stellte das Team um Pierluigi Collina, den Vorsitzenden der FIFA-Schiedsrichterkommission, fest. Ginge es nach der FIFA, würden WM-Treffer 2022 überhaupt nicht mehr gefeiert – oder die Anzahl der Tore zumindest auf ein Minimum reduziert. Je weniger Zeit den Spielern für den Blick in die Kamera bleibt, umso geringer ist auch das Risiko, dass sie ihre mediale Präsenz für eine Auslegung ihrer Interpretation von Menschenrechten nutzen.

Weiter heißt es seitens des Organisators, man habe den Referees die Vorgaben erteilt, die Netto-Spielzeit über 60 Minuten pro Begegnung zu halten. Dies dürfte vor allem einer Branche zugutekommen: der Stoppuhr-Industrie. Bislang hat sich der klassische Fußballfan wohl eher wenig um konkrete Netto-Zeiten geschert, sondern hat sich von Euphorie, mitreißenden „Remontadas“ und Panenkas oder Zidane-Rollen ablenken lassen. Spätestens wenn ab 2026 ein neuer Stoppuhren-Sponsor auf den Werbetafeln sichtbar wird, wird auch der letzte Fan verstehen, worum es bei einer WM wirklich geht.