Plötzlich ist „Krieg“ im russischen Staatsfernsehen. Die „militärische Spezialoperation“, wie Russland seinen Überfall auf die Ukraine seit Februar euphemistisch bezeichnet, hat sich fast unmerklich aus dem Wortgebrauch der Propagandisten zurückgezogen. „Wojna“, sagt ein Soldat von der Front im Donbass, den ein Reporter des Staatssenders Rossija 1 in seinem Beitrag zeigt. „Wojna“, meint ein Fraktionsvorsitzender der Duma in einer Talkshow des staatsnahen Senders NTW. Krieg. Ein Wort, das zu gebrauchen im Russland dieser Tage Strafermittlungen nach sich ziehen könnte. Doch seit der russischen Defensive in der Ukraine am vergangenen Wochenende ringt das Land samt seinen ultrapatriotischen Politikern, nationalistischen Militärexperten und gehässigen Fernsehmoderatoren nach Erklärungen. „Lebensbedrohlich“, „extrem gefährlich“, „Krieg ist eben Krieg“, heißt es in den Blogs und den TV-Sendungen.
Russische Armee räumt Großteil des Gebiets Charkiw
Nach ukrainischen Gegenschlägen haben die russischen Truppen den Großteil des Gebiets Charkiw im Nordosten der Ukraine geräumt. Den am Sonntag vom Verteidigungsministerium in Moskau gezeigten Karten zufolge räumten die russischen Einheiten den Norden des Gebiets an der Grenze zu Russland komplett und zogen sich auf eine Linie hinter die Flüsse Oskil und Siwerskyj Donez zurück. Kommentiert wurde der Rückzug nicht gesondert. Zuvor war von einer „Umgruppierung“ zur Verstärkung der Einheiten im Donezker Gebiet die Rede. Anfang der Woche hatte die russische Armee noch etwa ein Drittel des Charkiwer Gebiets kontrolliert.
Die ukrainische Armee hatte zu Beginn der Woche eine Gegenoffensive im Gebiet Charkiw begonnen und dabei massive Geländegewinne erzielt. Der ukrainische Generalstab bezifferte diese auf über 3.000 Quadratkilometer. Russland hat am 24. Februar einen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen und hielt zuletzt rund ein Fünftel des Staatsgebietes einschließlich der Halbinsel Krim besetzt. (dpa)
Von Niederlage und Rückzug sprechen sie freilich nicht. Dafür hat das russische Verteidigungsministerium andere Euphemismen in die Welt gesetzt. Im Gebiet Charkiw finde eine „Operation zur Verringerung und organisierten Verlegung der Truppen“ statt, sagt der Ministeriumssprecher Igor Konaschenkow wie üblich roboterhaft. „Umgruppierung“ ist das neue Schlagwort, wenn es um die russische Strategie an der Front geht, die natürlich nicht „Front“ heißt. Diese sei nötig, um den Donbass „zu befreien“. Der Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte am Montag, die „Spezialoperation“ werde so lange fortgesetzt, bis die „erklärten Ziele“ erreicht seien. Das Verteidigungsministerium redet von „schweren Verlusten“ der Ukrainer, nennt Zahlen gefallener Soldaten und verlorener Technik des „Feindes“. Was der offenbar hastige Rückzug der russischen Armee aus dem Gebiet Charkiw für Russland bedeutet, sagt offiziell indessen niemand.
„Business as usual“ im Kreml
Es herrscht „Business as usual“, die russische Führung gaukelt den Menschen Normalität vor. Seit Beginn seiner „Spezialoperation“ hat Russlands Präsident Wladimir Putin eine Art Trennung gemacht: hier der gewohnte, ruhige Alltag der Menschen in Russland, dort die „Aufopferung“ russischer „Jungs“, um „die Sicherheit des Vaterlandes zu schützen“. So ist sein Schweigen zu den russischen Misserfolgen auch jetzt zu sehen – als sei nichts passiert. Als seien die Fehlschläge lediglich Ausreißer in einer nach Plan verlaufenden Operation. Zu vernachlässigen also.
Dafür reden andere. Und das fast schon hysterisch. Das Image des großen, mächtigen Russland sei in Stücke gerissen, schreibt etwa der nationalistische Journalist Jegor Cholmogorow in seinem Telegram-Kanal. Die ruhmreiche russische Armee sei gedemütigt, die Menschen im Donbass seien verraten worden. Ein Telegram-Nutzer namens „Spion, dem niemand schreibt“ nennt die „Ereignisse in Charkiw“ eine „Katastrophe“. Es sei eine „verbrecherische Verantwortungslosigkeit“ derer, die das befohlen hätten. Manche fordern die Verhaftung von Generälen wegen Hochverrats, andere schreiben von „taktischen Nuklearschlägen auf westliche Gebiete der Ukraine“.
Der Ton in den russischen TV-Sendungen hat sich geändert. Plötzlich sind längst vergessene liberal eingestellte Politologen zu Gast in den Talkshows, die den Zuschauern erklären, dass Russland einen „Kolonialkrieg“ führe und damit sich selbst kaputtmache. Selbst der Chefpropagandist Dmitri Kisseljow, der Leiter der staatsnahen Medienholding Rossija Segodnja, klingt fast schon erschöpft. „Eine unfassbar harte Woche war das“, sagt er in seinem sonntäglichen Wochenrückblick „Westi Nedeli“. Bei Rossija 1 versucht die Moderatorin Olga Skabejewa die Lage schönzureden. „Nichts Übernatürliches“ sei bei Charkiw passiert. „Es ist nur sehr ernst, und wir machen uns Sorgen.“ Der Scharfmacher Wladimir Solowjow erinnert derweil an die „schwierige männliche Arbeit einer Spezialoperation“ und meint: „Alle Panikmacher gehören erschossen. Wie unter Stalin.“
De Maart
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