14. November 2025 - 6.37 Uhr
30 Jahre Independent Little LiesWie das Escher Theaterkollektiv entstand und weshalb es aus der Stadt nicht mehr wegzudenken ist

Lycée Hubert Clément Esch (LHCE), 1995. Befreundete Teenies wirken im Namasté mit, dem Schultheater des Gymnasiums. Die „Première“ steht kurz bevor. Die Lust, darüber hinaus gemeinsam auf der Bühne zu stehen, wächst. Luxemburg stellt in dem Jahr zum ersten Mal die europäische Kulturhauptstadt. Das Programm? Langweilig. Zu international, finden die Jugendlichen. Sie wollen ihr eigenes Ding machen. Dirk Gindt, heute Professor für Theaterwissenschaft in Schweden, schreibt das Stück „Der beste Tag“. Das Thema: Aids. Die Theater-Clique aus dem LHCE unterstützt die Aufführung. Bekannte sind an einer Zusammenarbeit interessiert. „Independent Little Lies“ ist geboren.
„Bâtiment4“, 2025. Weiß gestrichene Wände, Hocker, gurgelnde Heizkörper. Dirk Gindt fehlt. Dafür sitzen Claire Thill (Gründungsmitglied, Schauspielerin), Claire Wagener (Theaterschaffende) und Jacques Schiltz (Regisseur) an einem Tisch. Thill spricht von früher. Damals traf sich das Kollektiv in Eschs Kneipen. Unter anderem „bei Aline“, in der Kulturfabrik „oder überall dort, wo wir ohnehin abhingen“. Nun probt das Kollektiv im Kulturzentrum, nahe der Bahnschienen.
Wagener stieß 2018, Schiltz 2015/2016 als festes Mitglied dazu. Davor beteiligten sie sich an Projekten des Kollektivs. Schiltz trieb die Lust, eigene Ideen umzusetzen, nach Esch. Wagener überzeugten das Herzblut und der freundschaftliche Umgang innerhalb der Gruppe. Die Nähe zu Esch, zu Menschen unterschiedlichster Herkünfte und sozialer Klasse, sprachen sie ebenfalls an. Eine anhaltende Begeisterung, denn: Seit 2020 zählt sie zu den zwei Festangestellten des Kollektivs. Eine arbeitet sieben, die andere 16 Stunden in der Woche für ILL.

Weg zur Professionalisierung
„Früher arbeiteten wir umsonst“, erinnert sich Thill. „Unseren Panaché bezahlten wir mit dem Taschengeld.“ Später erhielt das Kollektiv Gagen, teilweise um die 500 Euro. Zuerst zahlten die Mitglieder sich alle dasselbe Gehalt aus, dann erhielten professionelle Kunstschaffende einen Tick mehr als jene, die nebenberuflich mitwirkten. Heute ist eine faire Bezahlung für alle möglich.
Aus der Jugendgruppe von 1995 ist über die Jahre hinweg ein professionelles Kollektiv geworden – samt Budget durch Konventionen mit der Stadt Esch (seit 2018) und dem Kulturministerium (seit 2017), festem Proberaum, nachhaltigen Projekten.
Die Professionalisierung bringt weitere Vorteile mit sich, sagt Schiltz: „Wir sind weiterhin auf Ko-Produzenten angewiesen, können jedoch langfristige Projekte durchführen.“ Er nennt die partizipative ‚Biergerbühn‘: ILL bietet Bürger*innen seit 2017 die Möglichkeit, Theater zu spielen. Schiltz verweist auch auf die ‚Microprojects‘ – eine interne Plattform zur Weiterentwicklung von Konzepten. „Einzigartig in Luxemburg“, betont er.
Kulturjahre

Die Geschichte von ILL ist aber auch von den Jahren geprägt, in denen Luxemburg die europäische Kulturhauptstadt stellte (1995, 2007, 2022). „Die Kulturjahre waren wichtig für ILL“, sagt Thill. 2007 entstand die erste Koproduktion mit Profis aus dem Ausland. „Wir koproduzierten ‚Mercury Fur‘ mit dem WUK Wien.“ Ein Projekt der „Biergerbühn“ war derweil Teil von „Esch2022“.
Kritische Stimmen zu den Kulturhauptstädten gibt es viele. Oft heißt es, die Großevents seien nicht nachhaltig. Das Kunstkollektiv Richtung22 stieß diese Diskussion zuletzt 2022 an. Thill, Wagener und Schiltz haben durchaus Vorbehalte gegen die kulturellen Großevents. So fiel auch die Entscheidung, die dritte Ausgabe des ILL-Festivals „Queer Little Lies“ (QLL) 2022 unabhängig vom Kulturjahr in Esch zu veranstalten. Das QLL wurde 2018 von Sandy Artuso, langjähriges Mitglied von ILL, ins Leben gerufen. Es gilt als Luxemburgs erstes Festival queerer Kunst. Trotzdem halten Thill, Wagener und Schiltz die Kulturjahre für einen guten Ausgangspunkt: Die Mittel stehen bereit, die Weichen für Projekte können gestellt werden.
Verbundenheit zu Esch
Auf die Escher Kulturpolitik angesprochen, hebt Schiltz den Kulturentwicklungsplan „Connexions“ der Stadt lobend hervor: Das Dokument skizziert, wie sich die Escher Kulturlandschaft bis 2027 entwickeln soll. Eine erste Version erschien 2017, die Neuauflage folgte im Jahr 2022. Nur wenige Gemeinden würden über eine solche Strategie verfügen, so Schiltz. Nur Differdingen (2018), wie aus einem Dokument des nationalen Kulturentwicklungsplans 2018-2028 hervorgeht.

Die Escher Strategie sieht unter anderem die Förderung von Projekten vor, die in Esch verankert sind. Wagener warnt jedoch: „Die Kulturverwaltung muss geduldig sein. Es braucht Zeit, bis eine solche Verbundenheit entsteht. Die Kunstschaffenden stehen vielen Unbekannten gegenüber: Von der Idee bis zur Umsetzung können Jahre vergehen. Wir brauchen einen Rahmen, der zugleich Stabilität und Offenheit garantiert.“
ILL gehört bereits zu Esch, oder wie Thill es ausdrückt: „Wir sind aus Esch nicht mehr wegzudenken.“ Konflikte mit der Gemeinde blieben in der Vereinsgeschichte allerdings nicht aus. Unter anderem, weil das Kollektiv in einer Broschüre aus einem Ablehnungsbescheid für Fördermittel zitierte. „Daraufhin erhielten wir wütende Posts von den Verantwortlichen“, erinnert sich Thill.

Inzwischen geht es gediegener zu. „Früher waren wir radikaler“, meint Thill. Das Kollektiv wehrte sich beispielsweise schon 2007 gegen die Umgestaltung des Brillplatzes; führte Stücke wie „Dreck“ (2000) oder „Far Away“ (2003) auf – beides Werke, die sich mit Fremdenfeindlichkeit und Faschismus befassen. „Wir versuchten anzuecken. Unsere Stücke waren politischer, unsere Aktionen auch“, sagt sie. „Für ‚Far Away‘ produzierten wir Aufkleber mit provozierenden Quotes, die wir im ‚Pitcher‘ und in anderen Lokalen hinterließen. Wir waren impulsiver.“
Schiltz wirft ein, das Kollektiv bleibe politisch aktiv. Nur der Ton sei ein anderer. Thill führt das auf die veränderten Lebensbedingungen zurück: „In unserer Jugend mussten wir keine Miete bezahlen oder für eine Familie aufkommen. Beides verändert die Denkweise.“
Und so fallen auch die Zukunftswünsche der Kollektivmitglieder eher bescheiden aus. Schiltz hofft auf die strukturelle Weiterentwicklung von ILL und auf mehr Flexibilität in der Theaterszene: „Oft stehen die Programme drei Jahre im Voraus fest. Das schränkt die Kreativität ein. Es ist wichtig, Raum für Spontanität zu lassen.“ Thill ergänzt: „Wir benötigen Gelegenheiten, um Dinge auszuprobieren, um zu scheitern.“ Wageners Wunsch ist hingegen menschlicher Natur: „Dass die Arbeitsverhältnisse freundschaftlich bleiben und jede Person ihre Wertigkeit behält. Wir sind dankbar füreinander – das soll nicht verloren gehen.“
Die Jubiläumsfeier
Am Freitag, ab 20 Uhr, feiert das ILL sein 30. Jubiläum im Escher „Ariston“. Neben weiteren Programmpunkten stellt Anne Schiltz ihren Dokumentarfilm Theater.Kollektiv vor: Sie zeichnet darin die Geschichte von ILL nach. Eine Anmeldung via Mail ([email protected]) ist erforderlich. Infos via ill.lu.
De Maart

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