GastbeitragWie beeinflusst unsere „Positionalität“ unsere Erkenntniswahrnehmung?

Gastbeitrag / Wie beeinflusst unsere „Positionalität“ unsere Erkenntniswahrnehmung?
Schüler*innen und Student*innen sollen in der Schule eigenständiges Denken vermittelt bekommen Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

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Wenige Aufgaben sind schwieriger, als Dinge außerhalb der eigenen Perspektive zu beobachten. Besteht unsere Realität aus absoluten Wahrheiten oder besteht sie aus Annahmen, die sich aus unserer Identität und unseren Erfahrungen zusammensetzen?

Den größten Teil unseres Lebens leben wir in unseren Köpfen. Dabei bestätigen wir immer unseren eigenen Ansichten in einem unbewussten Dialog in unserem Kopf. Sogar wenn wir wichtige Themen mit anderen besprechen, handelt es sich nicht wirklich um einen Dialog. Es handelt sich eigentlich um einen Monolog, bei dem wir versuchen, uns selbst zu überzeugen, zu verteidigen und unsere Ansicht anzupassen.

Die eigenen Ansichten

Das einfache Anerkennen, dass die eigenen Ansichten und Annahmen nicht unvermeidlich sind, ist dabei für viele Menschen eine enorme Herausforderung. Dabei geht es darum, zu verstehen, wie wir wissen, was wir wissen. Erlernt man diese Fähigkeit, dann ist es nicht nur menschlich eine Bereicherung, sondern spiegelt sich auch positiv im Berufsleben wider. Berufe, bei denen der Vorteil auf der Hand liegt, sind pädagogische und soziale Berufe. Ermöglicht man Schüler(inne)n und Student(inn)en, eigenständig zu denken und sich dabei als Denkende zu reflektieren und zu verstehen, fördert man Fähigkeiten wie Introspektion, Analysen und offene konstruktive Kommunikation.

Diesem Konzept gegenüber stehen die Fakten von unterbesetzten Schulen, überfüllten Klassen und einem Schulsystem, das wirtschaftlich benachteiligte, mehrsprachige und diverskulturelle Kinder als „Defizite“ wahrnimmt. Diese Kinder stellen für die Schule ein Problem dar und es braucht Ressourcen, um diese „Defizite zu kompensieren“.

Dadurch, dass wir zukünftige Lehrkräfte fragen, wie die eigene „Positionalität“ ihre Wahrnehmung und Einschätzung beeinflusst, kann das Zusammenleben in diverskulturellen Klassenräumen gefördert werden.

Was bedeutet Positionalität?

Die eigene „Positionalität“ wird bestimmt von eigenen Erfahrungen, wirtschaftlichen, ethnischen und sozio-kulturellen Aspekten. Ein plakatives Beispiel wäre, dass ein wohlhabender Mann eine Situation anders wahrnimmt als ein Mann, der auf der Straße lebt. Das Bewusstsein der eigenen Positionalität würde es in der Schule erlauben, dass man beispielsweise luxemburgischen Erstsprachler(inne)n ermöglicht, sich in die Lage von multilingualen Kindern zu versetzen, um zu beobachten, was man über die eigene Sprache übersehen hat und welche Position man in der Welt hat. Berücksichtigt man die individuellen Lebenserfahrungen, die jeder Schüler, jede Schülerin mit in die Klasse bringt, dann öffnet man die Tür für eine weitreichendere und komplettere Auffassung des behandelten Gegenstands. Vor allem binden wir alle als „Wissensschaffende“ mit ein und zeigen auf, dass individualisiertes Wissen zu einem kollektiven Verständnis beitragen kann. Dadurch bewegt man sich von einem einfachen „Tolerieren“ zu einem Respektieren von Unterschieden. Unterschiede helfen uns, unsere eigene Weltansicht besser verstehen zu können.

Die eigene Positionalität mit der eigenen Wahrnehmung zu verbinden, ermöglicht es zum einen, die eigene Wahrnehmung und Ansicht zu stärken, und sie gleichzeitig zu relativieren. So lernen Kinder, die eigene Ansicht zu teilen und dass sie das Recht haben auf die eigenen Lebenserfahrungen, und gleichzeitig lernen sie, dass dies auch für die anderen gilt. Das Bewusstsein für andere Geschichten und Ansichten wird gefördert. Nur durch das Zuhören von anderen kann ich mir meiner eigenen konzeptuellen Grenzen, die durch meine Identität und meine Erfahrungen geformt wurden, bewusst werden.

Das Analysieren und Reflektieren der Kulturen, in denen wir groß geworden sind, macht es uns möglich, uns unserer Umgebung und unserer Handlungen bewusster zu werden, und zwangsläufig auch objektiver zu werden.

Wissen, Skepsis, Zynismus

Wissen kommt dabei nicht unvermittelt. Wissen wird vielmehr in zwischenmenschlichen Beziehungen konstruiert. Stellt man die Konstruktion von Wissen infrage, dann entwickelt sich zwangsläufig eine informierte Skepsis. Die Autorität von Wissensquellen wird infrage gestellt und somit auch wir selbst. In einer Gesellschaft, in der „Wahrheit“ nicht immer offensichtlich ist, kann dies verwirrend wirken und zu einer Orientierungslosigkeit und generellem Misstrauen führen. So wird die Skepsis zu Zynismus. Um dies zu vermeiden, sollte man jedem die Möglichkeit geben, die eigene Perspektive zu teilen. Dadurch verhindert man, dass sich ein Gefühl der Ohnmacht verbreitet, da alle nachverfolgen können, wo welche Annahmen herkommen und wie sich das Gemeinschaftsverständnis konstruiert.

Bildung für ein besseres Zusammenleben

Unabhängig davon, welchen Beruf Lernende danach ausüben werden, sind sie, wie wir alle, jeden Tag in Kontakt mit Menschen mit anderen Perspektiven, deren Positionalität deren Weltansicht konstruiert hat. Das Bildungswesen kann dabei helfen, sich dieses Phänomens bewusst zu werden, und fördert ein bewussteres Handeln. Dies bedeutet, anderen zuhören zu lernen, zu versuchen, andere Ansichten nachvollziehen zu können und die eigene Weltansicht zu hinterfragen. Diese Fähigkeiten dienen nicht nur den Kindern in ihrer beruflichen und menschlichen Laufbahn, sondern sind auch förderlich für Lehrende, die dadurch immer wieder die eigene Positionalität infrage stellen lernen. Es vereinfacht die Aufgabe, die Kinder als vollwertige Menschen mit eigenen Gedanken, Erfahrungen und Ansichten wahrzunehmen, und ermöglicht ein besseres Zusammenleben, in dem Unterschiede als Ressource angesehen werden.

* Andy Schammo studiert Erziehungswissenschaften an der Universität Luxemburg und schreibt seine Abschlussarbeit zum Thema „Institutionelle Diskriminierung im Luxemburger Bildungswesen“. Er setzt sich privat gegen Diskriminierung und Ungleichheiten ein.