Faktengestützte Debatten„Wichtig, dass die Fakten verstanden werden. Was die Politik daraus macht, ist eine andere Sache“

Faktengestützte Debatten / „Wichtig, dass die Fakten verstanden werden. Was die Politik daraus macht, ist eine andere Sache“
Jean-Paul Bertemes Foto: Editpress/Tania Feller

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Der Wissenschaftskommunikator Jean-Paul Bertemes ist beim Luxembourg National Research Fund (FNR) auf die Vermittlung von Wissenschaft in der Gesellschaft spezialisiert. Zu diesem Zweck verantwortet er unter anderem die Newsseite „science.lu“. Auch die Zusammenführung von Politik und Wissenschaft gehört zu seinen Themenfeldern. Einen Tag vor der Debatte um die Impfpflicht hat das Tageblatt mit ihm über die Pandemie gesprochen – und darüber, wie man eine faktengestützte öffentliche Debatte erreicht.

Tageblatt: Herr Bertemes, sind Sie für oder gegen eine Impfpflicht? 

Jean-Paul Bertemes: Das  kann ich nicht sagen und ich will mich dazu auch gar nicht äußern, weil das eine politische Entscheidung ist. Das einzige, was ich sagen kann, ist, dass es sinnvoll ist, wenn möglichst viele Menschen geimpft sind. Aber ob eine Impfpflicht dazu der richtige Weg ist, kann ich nicht sagen. Und persönliche Meinungen haben sowieso viel zu viel Platz in öffentlichen Debatten. Ich will über Fakten reden.

Was sind denn die Fakten?

Ich stelle fest: Wir haben alle die Schnauze voll von den Maßnahmen und wollen raus aus der Pandemie. 

Aber was heißt „raus“? Man hört doch jetzt immer, dass wir das Virus nicht mehr loswerden?

Genau. Aber wir wollen zumindest von der Pandemie in die Endemie. Das ist erreicht, wenn das Potenzial für viele schwere Verläufe so niedrig geworden ist, dass die Krankenhauskapazitäten nicht mehr überlastet werden können. Und das geht nachhaltig nur über Immunität. Dann kann man mit Maßnahmen aufhören. Denn dann werden immer noch Leute schwere Verläufe haben, aber es gibt nicht mehr das Potenzial, dass das System zum Kollaps kommt.

Aber das ist doch schon jetzt nicht mehr so?

Ja, aber wir verhalten uns ja nicht normal momentan. Vor der Krise hatte ein Luxemburger etwa 17,5 Kontakte pro Tag. Dann ging es runter auf drei, vier. Bei der jüngsten der Umfragen, die wir gemeinsam mit Forschern regelmäßig auf science.lu machen, waren es circa sieben Kontakte pro Tag. Und wir haben immer noch Maßnahmen. 

Dann ist also die Frage, die sich auch bei der Impfpflicht stellt, wie man die Leute die Immunität erreichen lässt: Das geht nur, indem sie sich infizieren oder indem sie sich impfen lassen. Bei der natürlichen Durchseuchung gibt es zwei Methoden: Man lässt das Virus voll durchziehen, was aber keine Industrienation der Welt gemacht hat. Die andere Möglichkeit ist das Prinzip „Flatten the Curve“, mit Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen, Abstandsregeln, Tests und Masken.

Das sind auch alles wichtige Maßnahmen, um in einer akuten Phase die Pandemie erträglicher zu machen – aber sie verlängern die Pandemie im Umkehrschluss auch.

Das ist aber mit dem Impfen überhaupt nicht zu vergleichen: Das bringt uns dem Ziel viel schneller näher.

Müsste man das nicht viel vorsichtiger formulieren? Früher hörte man auch allenthalben, Impfungen schützten schon vor Ansteckung zuverlässig oder dass Masken sowieso nichts bringen. Später wurde dann auf den „Erkenntnisfortschritt“ verwiesen. Werden bei der Wissensvermittlung die Unsicherheiten nicht zu oft vernachlässigt?

Das ist mit das Komplizierteste an der ganzen Kommunikation: Wenn man Wissenschaft ehrlich kommuniziert, dann ist man sich oft „noch nicht ganz sicher“. Da reagieren die Leute aber erst mal allergisch darauf. Die wollen klare Aussagen und Gewissheit.

Natürlich gibt es da Wissenschaftler, die sich manchmal zu voreiligen Äußerungen hinreißen lassen. Aber viele waren von Anfang an ganz vorsichtig und haben immer betont: Wir können nur das sagen, wozu wir Daten vorliegen haben. 

In der Wissenschaft bildet sich die Evidenz oft nur sehr langsam heraus, während aber politische Entscheidungen viel schneller getroffen werden müssen. Die Politik konnte oft ja gar nicht auf die Wissenschaft warten. Die muss man oft anders denken. 

Wie groß ist der jetzt Unsicherheitsfaktor, wenn Sie jetzt sagen, dass das konsequente Impfen uns schneller aus der Pandemie hilft?

Es ist ganz klar: Man kriegt durch die Impfung eine Immunisierung und einen Schutz vor schweren Verläufen. Wir wissen auch, dass der Schutz vor schweren Verläufen länger anhält als der vor Infektion. Wir wissen aber derzeit noch nicht, wie lange dieser Schutz anhält.

Ist die Gefahr nicht groß, dass getriebene Politiker zu jedem Strohhalm greifen? Was, wenn jetzt einige der teils sehr militanten Impfgegner-Minderheit zum Impfen gebracht werden, also eher gegen ihren Willen, und in drei Monaten stellt man wieder fest, dass es eigentlich doch nichts gebracht hat, weil eine ganz neue Variante da ist? 

Es ist schwer. Wir machen immer das, was gerade am besten geeignet erscheint, schauen auf die Daten und reagieren darauf. Aber sie versteifen sich zu sehr darauf, dass mit dem Impfen die Pandemie sofort beendet wird.

Es gibt ein gutes Bild: Wir befinden uns nicht in einem Sprint, sondern in einem Langstreckenlauf. Die Wahrheit ist aber dabei: Wir wissen nicht, wie viele Kilometer überhaupt zu laufen sind. Trotzdem können wir uns entscheiden: Laufen wir oder gehen wir? Und das Impfen entspricht dem Laufen. 

Was wir aber jedenfalls wissen: Dass Immunität mit großer Wahrscheinlichkeit vor schweren Verläufen schützt und dass wir die aufbauen sollten. Es ist aber falsch zu sagen, wir brauchen 90 Prozent und dann sind wir raus. Das sind Versprechungen, die man nicht machen sollte. Nachher sind wir bei 90 Prozent und dann kommt eine neue Variante, die den Impfschutz umgehen kann.

Und wir fangen wieder bei Kilometer null an.

Natürlich ist es möglich, dass es eine Variante gibt, gegen die die Immunisierung gar nicht schützt – aber es ist nicht sehr wahrscheinlich. Es ist wahrscheinlich, dass neue Varianten den Immunschutz nur teilweise umgehen, man also vor schweren Verläufen geschützt ist. Gehen Sie eher davon aus, denn die Sars-CoV-2-Varianten sind sich ja schon grundsätzlich ähnlich.

Natürlich kann der schlimmste Fall eintreten, dass immer neue Varianten kommen, die den Impfschutz umgehen. Dann muss man halt nachjustieren und neu impfen. Das hört niemand gerne.

Man darf auch nicht immer nur an sich denken. Das ist so ein kollektives Phänomen, das darf man auch nur kollektiv angehen.

Aber wenn man sagt, dann impfe ich halt gar nicht mehr, dann ist man in der Regel schlechter dran. Wenn die Infektion irgendwann nur noch einen Schnupfen verursacht und gar nicht mehr schlimm ist, dann braucht man eventuell auch nicht mehr zu impfen. Das wäre ja sowieso noch ein weiterer möglicher Ausweg aus der Pandemie: wenn eine Variante kommt, die gar keine schweren Verläufe mehr provoziert.

Was macht die Kommunikation von Fakten schwierig?

Problematisch ist natürlich die absolute Verknappung. Vor allem mit den sozialen Medien ist kaum mitzuhalten. Es ist ja viel einfacher, Falschinformationen schnell in ein griffiges Meme zu packen, als da wissenschaftlich fundiert darauf zu antworten. Die Widerlegung ist dann immer abwägend, achtet auf den Kontext, das wird ja nicht im gleichen Maß gelesen und geteilt. Da weiß ich auch manchmal nicht so richtig, was man da dagegensetzen kann. 

Ich glaube wirklich, dass diese Blasen, die da entstehen und diese Algorithmen, die alles, was Aufmerksamkeit erregt, schneller weiterverbreiten als seriöse Informationen, dass das wirklich ein Problem ist für unsere Demokratie. Da müssen diese Plattform wirklich eine Verantwortung übernehmen. Viele problematische Aussagen von Politikern kommen auch daher. Die müssen da ja auch mitspielen, genauso wie so manche Wissenschaftler. Das ist schon ein Problem, weil es so zu Fehlern kommt.

Haben Sie Wünsche oder Befürchtungen hinsichtlich der Debatte?

Ich würde mich freuen, wenn auf hohem Niveau diskutiert wird. Ich finde es wichtig, dass man merkt, dass die Fakten verstanden wurden. Das ist ja die Rolle der Wissenschaft, die Vermittlung im Rahmen von „evidence informed public debates“Die Politik muss ja auch gesellschaftliche Dinge beachten und ihre Ideologie einbringen – da muss sich die Wissenschaft aber frei von halten. Sie muss die Fakten vermitteln, damit zum Beispiel eine Debatte über die Impfpflicht auf wissenschaftlichen Fakten beruhen kann. Aber was die Politiker daraus machen, ist eine andere Sache! Vielleicht erkennen sie die Wirkung des Impfens, aber finden doch, dass es andere Lösungswege gibt als Impfpflicht?

marci
19. Januar 2022 - 19.00

Ich zolle den höchsten Respekt für J.C. Kemp. Er trifft den Nagel genau dort wo der Schlag treffen muß. Ich bin, auf etwa der gleichen Schiene, immer wieder erstaunt, welches Forum mein früherer Schüler Bertemes genießt. Obwohl der Name Bertemes in den Kreisen des Erziehungs- und Forschungsministerium eine bestimmtes Gewicht hat, bin ich doch immer wieder erstaunt wie weit es der Junge gebracht hat. Gratulation!

Robert Hottua
19. Januar 2022 - 13.35

Guten Tag Herr Bertemes, ich habe als Psychologe im lux. Gesundheitswesen gearbeitet. Seit mehr als 25 Jahren weise ich aus Schuld, Scham und Pflicht auf die Notwendigkeit eines wissenschaftlichen Diskurses über das lux. Gesundheitswesen hin. Seit 1933 ist die Integrität der hippokratischen Medizin in Luxemburg mit der rassenhygienischen eugenischen Nazi-Medizin belastet. Die mentalen Bombenleger aus dem Luxemburger Wort haben die Bevölkerung nicht vor dem impf- und lebensfeindlichen medizinischen Nazi-Irrweg beschützt. Im Gegenteil: sie haben diesem grausamen Irrweg zumindest propagandistisch Vorschub geleistet. Es gab nicht nur eine jüdische, sondern auch eine sozialeugenische Endlösung in allen besetzten Gebieten. Das luxemburgische kollektive Gedächtnis ist intakt. Ich bin sicher, daß die Bevölkerung auf die Kenntnisnahme der wissenschaftlichen eugenischen, bevölkerungspolitischen Tatsachen mit einer Erhöhung der Impfbereitschaft reagieren wird. Ich bin gerne bereit mit Ihnen, Herr Bertemes, an diesem dringlichen Thema zu arbeiten. Meine elektronische Adresse erfahren Sie beim Tageblatt. MfG Robert Hottua, Gründer der LGSP (Luxemburgische Gesellschaft für Soziale Psychiatrie)

J.C. Kemp
19. Januar 2022 - 9.35

@Leo: Das Problem liegt auch am Verständnis wissenschaftlicher Fakten durch Politiker, kommen die meisten doch aus dem Rechts- und Finanzwesen und kaum aus den 'harten' Wissenschaften, entscheiden aber darüber.

Leo
19. Januar 2022 - 7.20

Ee vun de Problèmer hei zu Letzebuerg, ass, dat mer keng kontrovers Diskussion "auf hohem Niveau" féiren. Am Géigesaatz zu onsen Nopescchlänner färten d'Leit, di eng valable Contribution kënte maachen, domadder un d'Öffentlechkeet ze goen. Iwreg bleiben da just nach puer Spannerten.