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Forum / Wer steht hier für Freiheit?
 Foto: AFP/Olivier Chassignole

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Die republikanische Partei schmückt sich seit langem mit der amerikanischen Fahne und erklärt sich zum Verteidiger der „Freiheit“. Sie glaubt, Menschen sollten die Freiheit haben, Schusswaffen zu tragen, Hassreden zu führen und sich Impfstoffen und Gesichtsmasken zu verweigern. Gleiches gilt für Konzerne: Selbst wenn ihre Tätigkeit den Planeten zerstört und das Klima dauerhaft verändert, sollte man darauf vertrauen, dass der „freie Markt“ es schon richten wird. Banken und andere Finanzinstitute sollten von Regulierung „befreit“ werden, selbst wenn ihre Aktivitäten die gesamte Volkswirtschaft zum Einsturz bringen können.

Im Gefolge der Finanzkrise von 2008, der Pandemie und der Beschleunigung der Klimakrise sollte offensichtlich sein, dass diese Vorstellung von Freiheit für die moderne Welt deutlich zu grob und simpel gestrickt ist. Wer sie heute noch vertritt, ist entweder verstörend verbohrt oder korrupt. Isaiah Berlin, einer der großen Philosophen des 20. Jahrhunderts, hat einmal gesagt: „Freiheit für die Wölfe bedeutet häufig Tod für die Schafe.“ Oder anders ausgedrückt: Die Freiheit einiger ist die Unfreiheit anderer.

In den USA geht die Freiheit, Schusswaffen zu tragen, auf Kosten der Freiheit, in die Schule oder einkaufen zu gehen, ohne dabei erschossen zu werden. Tausende Unschuldiger – viele davon Kinder – haben auf dem Altar dieser Freiheit ihr Leben gelassen. Und Millionen haben verloren, was Franklin Delano Roosevelt für so wichtig erachtete: die Freiheit von Furcht.

So etwas wie absolute Freiheit gibt es innerhalb einer Gesellschaft nicht. Unterschiedliche Freiheiten müssen gegeneinander abgewogen werden und jede vernünftige Diskussion zwischen typischen Amerikanern (also solchen, die nicht von politischen Aktivisten und Sonderinteressen vereinnahmt wurden) käme unweigerlich zu dem Schluss, dass das Recht auf ein Sturmgewehr nicht „heiliger“ ist als das Recht anderer auf Leben.

Fake News im „Informationsökosystem“

In komplexen modernen Gesellschaften gibt es zahllose Wege, wie man durch sein Handeln anderen schaden kann, ohne dass es für einen selbst Konsequenzen hat. Die sozialen Medien verpesten unser „Informationsökosystem“ konsequent mit Falschinformationen und Inhalten, von denen bekannt ist, dass sie Schaden anrichten (nicht zuletzt bei adoleszenten Mädchen). Während die Plattformen selbst sich als neutrale Kanäle für bereits öffentlich zugängliche Informationen darstellen, fördern ihre Algorithmen aktiv gesellschaftlich schädliche Inhalte. Doch statt dass ihnen daraus irgendwelche Kosten erwachsen, fahren diese Plattformen Jahr für Jahr Milliardengewinne ein.

Die US-Technologiegiganten werden durch ein Gesetz aus den 1990er Jahren vor Haftung geschützt, das ursprünglich die Innovation in der unausgeformten digitalen Wirtschaft fördern sollte. Es ist derzeit ein Fall vor dem US Supreme Court anhängig, bei dem es um dieses Gesetz geht, und auch andere Länder weltweit stellen in Frage, ob Online-Plattformen in der Lage sein sollten, sich der Rechenschaftspflicht für ihr Handeln zu entziehen.

Für Ökonomen ist die Palette der Dinge, die man tun kann, ein natürliches Maß für Freiheit. Je größer das Spektrum der Möglichkeiten ist, die man hat, desto freier ist man, zu handeln. Wer am Rande des Verhungerns ist – und tut, was nötig ist, nur um zu überleben –, ist faktisch unfrei. So gesehen besteht eine wichtige Dimension von Freiheit in der Fähigkeit, sein Potenzial auszuschöpfen. Eine Gesellschaft, in der es großen Segmenten der Bevölkerung an derartigen Möglichkeiten fehlt – wie es in Gesellschaften mit einem hohen Maß an Armut und Ungleichheit der Fall ist –, ist nicht wirklich frei.

Investitionen in öffentliche Güter (wie Bildung, Infrastruktur und Grundlagenforschung) können das Spektrum der Möglichkeiten für alle erweitern und so faktisch die Freiheit aller mehren. Doch erfordern derartige Investitionen Steuern, und viele Menschen – insbesondere in einer Gesellschaft, in der Gier positiv besetzt ist – sind lieber als Trittbrettfahrer unterwegs und vermeiden, ihren fairen Anteil zu bezahlen.

Dies ist ein klassisches Problem kollektiven Handelns. Nur wenn alle gezwungen sind, ihre Steuern zu zahlen, können wir die Staatseinnahmen generieren, die erforderlich sind, um in öffentliche Güter zu investieren. Zum Glück geht es dadurch allen besser – auch denen, die gegen ihren Willen gezwungen wurden, ihren Beitrag zu den gesellschaftlichen Investitionen zu leisten. Sie leben in einer Gesellschaft, in der sich ihnen, ihren Kindern und allen Übrigen ein größeres Möglichkeitsspektrum bietet. Unter diesen Umständen ist Zwang eine Quelle der Befreiung.

Kapitalismus und Freiheitsrhetorik

Neoliberale Ökonomen haben diese Punkte lange ignoriert und sich stattdessen auf die „Befreiung“ der Wirtschaft von dem konzentriert, was sie als für die Unternehmen lästige Vorschriften und Steuern betrachten (von denen viele massiv von öffentlichen Ausgaben profitiert haben). Doch wo wären Amerikas Unternehmen ohne gut ausgebildete Erwerbsbevölkerung, den Rechtsstaat, um Verträge durchzusetzen, oder die für den Warentransport erforderlichen Straßen und Häfen?

In ihrem neuen Buch „The Big Myth“ zeigen Naomi Oreskes und Erik M. Conway, wie es Wirtschaftsinteressen geschafft haben, der amerikanischen Öffentlichkeit die unerschütterlich regierungsfeindliche Vision eines Kapitalismus des „freien Marktes“ zu verkaufen, die in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg aufkam. Die Freiheitsrhetorik war dabei zentral. Die Industriekapitäne und ihre universitären Diener charakterisierten unsere komplexe Volkswirtschaft – eine umfassende Matrix aus privaten, öffentlichen, genossenschaftlichen, ehrenamtlichen und gemeinnützigen Unternehmungen – systematisch um zu nichts weiter als einer Wirtschaft des „freien Unternehmertums“.

In Büchern wie Milton Friedmans „Kapitalismus und Freiheit“ und Friedrich Hayeks „Der Weg zur Knechtschaft“ wurde der Kapitalismus in grober Weise mit Freiheit gleichgesetzt. Zentral für diese Vision des Kapitalismus ist die Freiheit, andere auszubeuten: Monopole sollten die uneingeschränkte Macht haben, potenzielle neue Marktteilnehmer niederzutrampeln und ihre Arbeiter auszupressen, und Unternehmen sollten die Freiheit haben, zu konspirieren, um ihre Kunden auszunutzen. Doch nur in einer Märchenwelt (oder einem Ayn-Rand-Roman) könnte man eine derartige Gesellschaft und Wirtschaft „frei“ nennen. Und egal, wie wir sie bezeichnen: Es ist keine Wirtschaft, die wir uns wünschen sollten und die breiten Wohlstand fördert, und die gierigen, materialistischen Individuen, die sie belohnt, sollten uns kein Vorbild sein.

Die Demokraten müssen sich den Begriff der „Freiheit“ zurückholen und Gleiches gilt für Sozialdemokraten und Liberale weltweit. Es ist ihre Agenda, die wirklich frei macht, den Menschen Chancen eröffnet und sogar Märkte hervorbringt, die wirklich frei sind. Es stimmt: Wir brauchen verzweifelt dringend freie Märkte, aber das bedeutet vor allem Märkte, die frei sind vom Würgegriff der Monopole und des Monopsons, und von der unberechtigten Macht, die Big Business durch ideologische Mythenbildung angehäuft hat.


Zum Autor: Joseph E. Stiglitz ist Wirtschaftsnobelpreisträger und Professor an der Columbia University sowie Mitglied der Unabhängigen Kommission für die Reform der internationalen Unternehmensbesteuerung (ICRICT).

Aus dem Englischen von Jan Doolan.

© Project Syndicate, 2023