Wenn Gewalt ungesühnt bleibt: Maria Guryeva über die Situation in der Ukraine

Wenn Gewalt ungesühnt bleibt: Maria Guryeva über die Situation in der Ukraine

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Seit 2015 arbeitet Maria Guryeva für Amnesty International Ukraine. Sie ist für Medien und Kommunikation zuständig. Mehr will sie über sich selbst an diesem Morgen nicht erzählen. Eine Erklärung dafür liefert sie indirekt am Abend während einer Debatte in einem der Kinosäle auf Kirchberg.

In Kiew vermeidet man es, zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Nichts am Gebäude mit den AI-Räumlichkeiten deute auf die Präsenz der Menschenrechtsorganisation hin, sagt sie.

Die Adresse werde nur vertrauenswürdigen Personen zugesteckt. Mitgliedern rate man vom Tragen der Westen mit dem AI-Logo ab. Nicht dass die Organisation und ihre aktuell acht Mitarbeiter von den Autoritäten bedroht würden. Auch Amnesty setzen rechtsradikale Kräfte zu. Dieselben, die sich an Minderheiten im Lande vergreifen wie etwa Angehörige der LGBTI-Gemeinschaft oder Roma.

Gewaltakte gegen die LGBTQI, Frauen und Minderheiten

Nicht ohne Grund ist die Menschenrechtsorganisation Zielscheibe der Rechten. Eines der prioritären Arbeitsfelder von AI seien Frauenrechte, wobei insbesondre die Problematik häusliche Gewalt und Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern im Fokus stehe, sagt Guryeva. Weitere Schwerpunkte seien rechte Gewaltakte gegen die LGBTQI-Community, Frauenrechtlerinnen und Minderheiten. „Wir rufen die Regierung dazu, etwas gegen diese Gewalt zu unternehmen, insbesondere auch gegen die Straffreiheit bei derlei Gewalttaten.“

Der Prozess

Anlass für Maria Guryevas Aufenthalt in Luxemburg war die Vorführung des Films von Askold Kurov „Der Prozess: Der russische Staat gegen Oleg Sentsov“ (2017).

Ihr schloss sich eine Debatte über den Fall Sentsov und die Menschenrechtslage in der Ukraine an. Teilnehmer war neben Frau Guryeva auch Charles Goerens, Luxemburger EP-Mitglied. Organisatoren waren die Vertretung des EP in Luxemburg und AI Luxemburg.

Sentsov ist Träger des Sacharow-Preises 2018 des Europäischen Parlaments. 2014 wurden er und eine Handvoll anderer Ukrainer auf der von Russland im selben Jahr annektierten Krim wegen des Verdachts der Vorbereitung von Terroranschlägen festgenommen.

2015 verurteilte ihn ein Gericht in Simferopol auf der Krim zu 20 Jahren Lagerhaft. Namhafte Filmregisseure, u.a. auch russische, haben sich für Sentsovs Freilassung engagiert.

Ebendiese Straflosigkeit, die Gewalttäter oftmals genießen, bezeichnet Guryeva als eines der großen Probleme der Ukraine. Die Gesetzeshüter seien scheinbar nicht in der Lage, entsprechend auf diese Verbrechen zu reagieren oder sie zu verhindern. „Wir verzeichneten etliche Übergriffe auf Antikorruptionsaktivisten und Journalisten“, sagt Guryeva. Und zwar im ganzen Land. Als Beispiel nennt sie den Fall Pawel Scheremet. Der Journalist wurde im Juli 2016 durch eine Autobombe in Kiew getötet. Fortschritte bei den Ermittlungen gab es bisher keine. Viele Verbrechen würden nicht aufgeklärt. Diese Straflosigkeit rufe weitere Verbrechen hervor.

Polizei kaum motiviert

„Es fehlt am politischen Willen“, sagt Guryeva auf die Frage, wie derlei Verhalten der Staatsmacht zu erklären sei. Aus welchen Gründen auch immer, aber seitens der Regierung gebe es keine realen Fortschritte, was die Bekämpfung dieser Straflosigkeit betrifft. Nach der Ermordung von Aktivisten und Journalisten höre man zuerst lautstarke Erklärungen des Präsidenten und anderer hoher Vertreter der Staatsmacht, aber konkret geschehe dann nichts. Die Polizei sei kaum motiviert, Gewalt gegen Minderheiten zu verhindern. Es fehle da an Instruktionen, sagt sie. Entsprechend könnten die Ordnungskräfte auch nicht mit Hassverbrechen umgehen.

Bereits der letzte AI-Bericht zur Ukraine von 2017/2018 listete allerlei Verstöße gegen die Menschenrechte in den umkämpften Gebieten im Osten des Landes und der Krim auf, aber nicht nur dort. Eine Verbesserung der Situation kann Guryeva nicht feststellen. Mehr noch: Die Regierung beabsichtige, den Handlungsraum der Zivilgesellschaft einzuschränken. So gab es Versuche, gesellschaftlichen Organisationen strengere Rechenschaftspflichten aufzuerlegen, indem sie ihre Einkünfte detailliert offenlegen müssten. Bedroht ist die Meinungsfreiheit. Fernsehanstalten, die eine fortschrittliche Position einnehmen, würden unter Druck gesetzt.

Menschenrechte werden verletzt

Dennoch verzeichnet Guryeva auch positive Momente. Zum Beispiel bei den Frauenrechten. So wurde eine seit den 1990er Jahren bestehende Liste von Berufen, deren Ausübung den Frauen untersagt war, abgeschafft. Frauen durften beispielsweise keine öffentlichen Verkehrsmittel fahren oder Berufstaucher werden.

Erfreut zeigt sich die AI-Sprecherin über ein neues Gesetz, das erstmals häusliche Gewalt unter Strafe stellt. Leider sei die Istanbuler Konvention (des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) noch nicht ratifiziert worden, bedauert sie, obwohl auch die Ukraine sie unterschrieben hat. Das bremse eine wirkungsvollere Bekämpfung dieser Form von Gewalt. Nach wie vor gebe es keine landesweite Hotline für Gewaltopfer, kein Netz von Frauenhäusern. Konservative Kräfte würden die Ratifizierung der Konvention verhindern.

Menschenrechte werden verletzt. Und die Menschenrechtler von AI? Die Atmosphäre von Straflosigkeit und insbesondere die Überfälle radikaler Gruppen machen auch ihr zu schaffen. Im Mai 2018 wurde eine von AI zusammen mit Freedom House und Human Rights Watch organisierte Diskussionsrunde über die LGBTI-Bewegung überfallen. Mehr als dreißig Personen, die sich als Rechte ausgaben, stürmten den Saal, erzählt Guryeva. Etwas Schutz bekamen sie von eigenen Sicherheitsleuten. Ebenfalls anwesende Angehörige der lokalen Polizeidienststelle hätten jedoch nichts unternommen und sich zurückzogen. Die seien zu dreißig, sie zu drei, so deren Erklärung. Nur dank einer herbeigerufenen Polizeistreife konnten die Versammelten evakuiert werden.

Eine Woche später wurde die Diskussionsrunde neu aufgelegt, dieses Mal mit zusätzlichen Polizisten. Die Teilnehmer wurden mit Bussen zum Treffpunkt gefahren. Auch die Rechtsradikalen meldeten sich zurück, ohne jedoch handgreiflich zu werden. „Es ist schon eine unglaubliche Situation, dass in einem europäischen Land eine Organisation bei einer ihrer Veranstaltungen zum eigenen Schutz auf massive Polizeipräsenz angewiesen ist“, sagt Guryeva. Dabei genieße AI noch einen gewissen Ruf im Land. „Wir sind eine internationale Organisation, deshalb fällt es uns leichter, mit den lokalen Behörden zu reden. Aber was ist mit den kleinen, örtlichen Organisationen oder Graswurzelbewegungen, die über keinerlei Ressourcen verfügen?“ Einige verzichteten auf öffentliche Veranstaltungen und zögen sich auf Online-Plattformen zurück. „Das alles hat einen abkühlenden Effekt auf die Zivilgesellschaft.“

Wenig Erfreuliches

Kaum Erfreuliches weiß Guryeva ebenfalls aus den selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk im Osten des Landes zu berichten. Zugang dorthin habe AI seit 2016 nicht. Damals untersuchten Amnesty-Mitarbeiter die Existenz von geheimen, das heißt illegalen Gefängnissen auf dem ganzen Gebiet der Ukraine. Menschen werden festgenommen und verschwinden während Monaten. Geheimgefängnisse gab es damals auch außerhalb der umkämpften Zonen.

Konkret wisse man von einem Gefängnis des SBU (Ukrainischer Sicherheitsdienst) in Charkiw. „Bis 2016 wurden dort Menschen monatelang eingesperrt. Im Osten des Landes werden Menschen in verlassenen Industriegebäuden festgehalten“, so Guryeva. Und auf der Krim? Dort beobachte man insbesondere eine zunehmende Diskriminierung der Krim-Tataren. Viele von ihnen seien bereits verhaftet worden. „Leider verschlechtert sich die Situation auch dort.“

Ob der Eindruck täuscht, dass in Europa doch recht wenig über die Menschenrechtslage in der Ukraine geredet wird? Maria Guryeva: „Schwer zu sagen. Die Ukraine bekommt viel Unterstützung aus Westeuropa für Reformen. Für uns ist es wichtig, dass das Land diese Reformen auch durchführt und sich ernsthaft mit den Menschenrechten auseinandersetzt. Deshalb bemühen wir uns, auf Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen. Nicht um das Land in einem schlechten Licht darzustellen, wie uns manchmal vorgeworfen wird, sondern um die Regierung auf Bereiche hinzuweisen, denen sie sich mit den entsprechenden Ressourcen stärker widmen sollte, um Veränderungen voranzutreiben. Wie das zum Beispiel bei den Frauenrechten der Fall ist.“ Angesichts der Verschlechterungen der Menschenrechtssituation müsste man jedoch mehr darüber schreiben. „Denn der Druck des Westens und der Geberländer kann die Regierung in Kiew beeinflussen.“

Jacques Zeyen
2. Februar 2019 - 20.13

Die höchste Form der Gewalt ist die Staats-und Religionsgewalt. Amnesty International kämpft einen ungleichen Kampf. Aber Präsenz und Veröffentlichung aller "Untaten" sind das große Verdienst dieser und ähnlicher Organisationen. In seinem Buch " Formen der Macht" erwähnt Bertrand Russell die Wege und Möglichkeiten auf welche Macht ausgeübt werden kann. Die Staats-und Religionsformen haben mehr oder weniger "Freiheiten" ihre Macht auszuüben. Wenn Gewalt auf höchster Ebene ausgeübt wird,ist sie unantastbar,sei sie auch noch so ungerecht. So erleben wir hundertfache Genozide und alle bleiben sie ungesühnt. Sogar in den heiligen Büchern werden Genozide und Mord verherrlicht. Ob Bibel oder Koran,der Herr war noch nie ein Hirte. Wieso sollten irdische Machthaber (siehe unsere armselige Geschichte) sich zieren ihr Glück zu versuchen. Was haben uns die großen Revolutionäre gebracht? Mao,Lenin,Stalin,Hitler,Assad,Mussolini,Khomeni..die Liste ist endlos. Solange die Massen dumm gehalten werden ( Allah,Gott,Baal,Ra,Jupiter etc. ist groß ) ist es ein Leichtes Macht zu missbrauchen. Und zwar immer ungesühnt.