Was macht aus Kindern starke Erwachsene? Zur Bildung der „Resilienz“

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Es ist ein Mythos, dass nur Kinder eine besondere psychische Widerstandskraft (Resilienz) entwickeln, die äußerst behütet aufwachsen, sagt der kanadische Forscher Dr. Michael Ungar. Er plädiert dafür, Kindern mehr zuzutrauen. Problemlösung und Krisenbewältigung im richtigen Ausmaß für jedes Alter dosiert, helfen Kindern dabei, zu Erwachsenen mit starken Persönlichkeiten zu werden, erklärte der Forscher unserer Redakteurin Daisy Schengen.

Tageblatt: Dr. Ungar, was ist „Resilienz“?
Dr. Michael Ungar: Aus Sicht unserer Forschung bedeutet Resilienz die Fähigkeit, die nötigen Mittel zu bekommen, die wir brauchen, um uns wohlzufühlen, im Sinne von psychischer Gesundheit. Dies setzt eine gewisse „Verhandlungsarbeit“ voraus, um diese Ressourcen aus unserem Umfeld zu bekommen und sie wertschätzen zu lernen.
Oder anders erklärt: Früher glaubte die Forschung, dass Resilienz eine innere Charaktereigenschaft ist, über die man verfügt oder nicht. Heute versteht die Wissenschaft unter Resilienz einen Prozess, in dem wir die Möglichkeiten wahrnehmen, die uns unsere Umgebung, Familie, Schule bieten, um uns wohlzufühlen und erfolgreich zu sein.

Wann fällt der Startschuss von diesem Prozess? Als Baby, Kind oder im Erwachsenenalter?
Eigentlich tritt Resilienz in jedem Alter in unterschiedlicher Form auf. Als Baby richtet sie sich nach den Systemen, die uns zu diesem Zeitpunkt umgeben. Wenn Mutter und Vater eine stabile psychische Gesundheit aufweisen, in geordneten Verhältnissen leben (Haus, Job, keine häusliche Gewalt usw.), bedeutet das mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass auch das Baby diese Resilienz vermittelt bekommt. Sogar dann, wenn das Kind eine Behinderung oder ein Trauma erlebt hat.

Wir glauben, dass je jünger das Kind ist, desto wichtiger das Umfeld für die Entwicklung dieses Prozesses in jedem von uns ist. Sodass wir nun nicht nur über die Resilienz von einer Person, sondern über die Resilienz der Familie, der Schule, des gesamten Umfeldes sprechen müssen.

Sie sind Gastredner auf der Konferenz der „Fondation SOS Kinderdorf“ über Traumapädagogik. Der Fokus Ihrer Arbeit liegt auf der Begleitung und Betreuung traumatisierter Kinder. Was können Fachleute und Eltern tun, um Resilienz auszubilden und zu stärken?
Genau dieser Fragestellung gehen wir in unserer klinischen Forschung nach. Bei weltweiten Studien haben wir neun Eigenschaften zusammengetragen, über die resiliente Kinder verfügen, weil sie das Rüstzeug von ihren Betreuern und Eltern vermittelt bekamen.
Neben einem intakten Familienumfeld wissen wir, dass Routinen und stabile Strukturen (zur Schule gehen, studieren, Job haben) sehr wichtig für die Resilienz sind. Darüber hinaus stellen eine starke Persönlichkeit, Selbstliebe und geliebt werden unabdingbare Voraussetzungen dar. Kinder brauchen außerdem die Sicherheit, Dinge unter Kontrolle zu haben, sie selbst zu bestimmen. Ein Zugehörigkeitsgefühl darf ebenso wenig fehlen wie das Verständnis um die eigene Kultur.

Aber ist es nicht besonders für Kinder, die nicht in ihren leiblichen Familien leben, wie im SOS-Kinderdorf oder bei Pflegeeltern, enorm schwierig, ein Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln?
In solchen Fällen entwickeln die Kinder tatsächlich ein Zugehörigkeitsgefühl, aber nicht in Bezug auf Personen, sondern zu ihrer Gruppe. Wenn Struktur, Stabilität und Sicherheit für die Kinder als gegeben gelten, werden sie sich auch der Gruppe, in der sie leben, anschließen.

Gibt man ihnen dort als Bezugsperson das Gefühl, wertgeschätzt und akzeptiert zu sein, und ermutigt man sie selbst zur Wertschätzung und Akzeptanz, werden sie sich dort angenommen fühlen. Genau das hilft ihnen, auch außerhalb der leiblichen Familie Resilienz aufzubauen.

Im Gesprächsverlauf fiel der Begriff der „starken Persönlichkeit“. Welches Rüstzeug brauchen Kinder im Allgemeinen, um eine solche zu entwickeln?
Kinder selbst berichten, dass sie sich stark, im Sinne von Charakter, fühlen, wenn sie die Möglichkeit bekommen, ihre Talente einzusetzen. Das ist eine der beiden Strategien, die ich im Laufe meiner Arbeit beobachten konnte. Auch Kinder mit einer Behinderung haben besondere Fähigkeiten – sei es im schulischen Bereich, im Sport oder indem sie andere Menschen zum Lachen bringen. All das lässt sie selbstständiger und selbstsicherer werden. Ein Betrag, den wir an die anderen leisten, ist das zweite essenzielle Element, um eine „starke Persönlichkeit“ zu entwickeln. Wir haben bei unseren weltweiten Forschungen festgestellt, dass resiliente Kinder sich engagieren, indem sie etwas für andere Menschen tun.

Dadurch dass ich mich als Person für andere einsetze, bekomme ich etwas zurück, ich forme gleichzeitig meine eigene Identität. Diese Wechselbeziehung zwischen uns und unserem Umfeld lässt uns später als Erwachsene zu selbstbewussten, freundlichen Menschen werden.

Sprich die Eigenschaften, die man als Kind in Bezug auf Resilienz entwickelt, ziehen sich wie ein roter Faden durch unser ganzes Leben? Welche Rolle spielen sie im Zusammenhang mit Krisenbewältigung?
Je früher Menschen diese psychische Widerstandskraft entwickeln, desto genauer können wir voraussagen, dass diese Personen über das nötige Rüstzeug verfügen, um Krisen im Leben zu begegnen und entsprechend zu bewältigen. Es ist wie eine Art Impfung, die wir den Kindern geben können, indem wir ihnen Zugehörigkeitsgefühl, Beziehungsfähigkeit und eine starke Persönlichkeit vermitteln und auszubilden helfen.

Wann ist ein Überbehüten zu viel? Oder anders gefragt, wann sollten sich Eltern, die ihren „Job“ sehr ernst nehmen, zurücklehnen und die Kinder mal einfach machen lassen?
Sie meinen die sogenannten „Risiko-Nehmer“-Eltern, wie ich die Gruppe nenne, die ihren Kindern alle Steine aus dem Lebensweg räumen.

Nehmen wir Kinder in ganz jungem Alter. Ein zu viel an Fürsorge kann einen „Overload“-Effekt haben. Diese Überlastung lässt Kinder egal welchen Alters im Kreis drehen und bremst die Entwicklung von Resilienz aus. Viele resiliente Kinder bekommen die Möglichkeit, altersgerechte Risiken einzugehen oder Verantwortung für andere Menschen zu übernehmen.

Das Erstaunliche am Elternsein derzeit ist die Tatsache, dass es zu einer Überbehütung geworden ist. In Familien, wo diese „Abschottung“ stattfindet, werden die Kinder um ihre Chancen beraubt, eine starke Persönlichkeit zu entwickeln. Abgesehen davon zeigen Studien, dass überbehütete Kinder als Erwachsene ängstlicher sind und eine niedrige Stresstoleranz haben, sprich schlecht Stress und Krisen bewältigen können.

Natürlich gilt die Aussage nicht in diesem Ausmaß für die Kinder im SOS-Kinderdorf. Dort brauchen die Kinder diese außerordentliche Fürsorge. Aber in intakten Familien sollten Kinder früh Erfahrungen mit überschaubaren, altersgerechten Mengen an Stress machen. Zu einem bestimmten Moment unter Druck geraten und ein gestelltes Problem lösen gibt den Kindern einen enormen Schub an Selbstvertrauen und macht sie stärker.


DEFINITION: „Resilienz“

„Resilienz“ kann mit Widerstandsfähigkeit (Elastizität oder Spannkraft) übersetzt werden. Der Begriff meint die Eigenschaft, mit belastenden Situationen umgehen zu können.

(Aus Corina Wustmann: Resilienz: Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern, Beltz 2004; Aus der Reihe: Beiträge zur Bildungsqualität)


Der Vortrag

„Resilienz fördern: Der Einfluss des Umfeldes auf die positive Entwicklung von lebensgeschichtlich belasteten Kindern“
Dr. Michael Ungar spricht in seinem Vortrag auf der Traumapädagogik-Konferenz (15.-19. Oktober, Abtei Neumünster) über Kinder, die aus ihren Familien herausgenommen wurden und unter behördlicher Obhut leben. In diesem Zusammenhang nimmt er Mechanismen unter die Lupe, die die Kinder in dieser Umgebung resilienter werden lassen.


Buchnotiz

In I Still Love You zeigt Dr. Michael Ungar praktische Strategien (neun Dinge) auf, mit denen Eltern, Lehrer und Betreuer jungen Menschen helfen, die wütend, selbstverletzend, besorgt, beleidigend oder straffällig sind.

Und wie man als Erwachsener ihnen nah sein kann, unabhängig davon, welche emotionalen, psychischen und Verhaltensprobleme die jungen Menschen gerade meistern müssen.