HintergrundWarum Russland in der Ukraine besser dasteht, als wir uns glauben machen

Hintergrund / Warum Russland in der Ukraine besser dasteht, als wir uns glauben machen
Ein ukrainischer Soldat in der Nähe von Charkiw: In der Ukraine liegen auch zahllose Straßen, Brücken und Industrieanlagen in Schutt und Asche Foto: AFP/Dimitar Dilkoff

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Wer gewinnt gerade in der Ukraine? Nach anfänglichen Erfolgen gegen die russischen Invasoren müssen die Ukrainer nun vermehrt Rückschläge einstecken. Über diese wird aber weniger berichtet. Das könnte sich rächen. Und dürfte auch nicht im Interesse Kiews und des Westens sein.

Ukrainische Traktoren, die russische Panzer abschleppen. Mit der „Moskwa“ wurde das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte einfach versenkt. Kiew und Charkiw erfolgreich verteidigt. Zuletzt das Fiasko für die russischen Streitkräfte, als einer ihrer Verbände an einer Flussüberquerung im Osten der Ukraine aufgerieben wurde. Die Nachrichten von den Erfolgen der ukrainischen Soldaten im Kampf gegen die russischen Invasoren finden ihren Weg verlässlich in die westlichen Medien. Den Underdog zu bejubeln, fällt leicht. Doch die Erfolge des russischen Aggressors anzuerkennen, ist schmerzhafter, und so wird den russischen Fortschritten weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Die Augen vor ihnen zu verschließen, dürfte aber ein Fehler sein. Denn die Anfangserfolge der Ukrainer waren genau das: Anfangserfolge. Ein Sieg ist das aber noch lange nicht.

Das Gegenteil dürfte der Fall sein. Die Zeichen verdichten sich, dass die Ukraine auf etwas zusteuert, was nur mehr schwerlich als Sieg bezeichnet werden kann. Dafür sind die bereits an die Russen verlorenen Gebiete zu umfassend und die landesweiten Zerstörungen durch den Krieg zu schockierend. „Auch wenn das niemand hören will, hat Putin diesen Krieg noch nicht verloren“, sagt Militärstratege Markus Reisner, der in Österreich die Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie leitet, zum Tageblatt. Da zu Beginn keine der beiden Seiten zusammengebrochen sei, drohe ein zäher Krieg, der „mindestens“ bis Ende 2022 oder Mitte 2023 dauern könnte. „Dieser Krieg ist noch lange nicht entschieden“, sagt Reisner.

Auch wenn das niemand hören will, hat Putin diesen Krieg noch nicht verloren

Militärstratege Markus Reisner

Den schmerzhaften Niederlagen der Russen im Norden der Ukraine stehen schnelle und umfassende Erfolge im Süden und ein Vorankommen im Donbass gegenüber. Die Gebietsgewinne der Russen im Osten sind zwar zäh und verlustreich, ein Vorankommen bleiben sie allemal. Von ukrainischen Soldaten im Donbass sind zuletzt erste Videos in den sozialen Medien aufgetaucht, in denen sie den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj um dringende Unterstützung bitten. „Wir stehen hier vor dem Kollaps“, sagt einer der Soldaten in die Kamera. Es mangle an vielem, so könne man die Russen nicht aufhalten. Der Ausdruck in den Gesichtern der Soldaten lässt kaum Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit zu. Sie sehen abgekämpft und verzweifelt aus nach wochenlangem Ausharren unter dem Dauerfeuer russischer Artillerie.

Im Donbass kämpfende ukrainische Soldaten fordern Hilfe an
Im Donbass kämpfende ukrainische Soldaten fordern Hilfe an Foto: Screenshot/Telegram-Video

Am Montagabend haben auch die letzten ukrainischen Kämpfer in Mariupol kapituliert, die sich wochenlang in den Gängen und Kellern unter dem Asow-Stahlwerk verschanzt hatten. Längst sind sie zu Symbolen der ukrainischen Widerstandsfähigkeit geworden. Nun mussten sie aufgeben. Auch das ist keine gute Nachricht für die Moral der Ukrainer.

Nacht für Nacht Angriffe aus der Luft

Jede Nacht schlagen im Westen des Landes ballistische Raketen der Russen ein und zerstören dort Infrastruktur und Waffenlieferungen aus den USA und Europa, die eigentlich an die Front im Osten gelangen sollten. Genaue Opferzahlen veröffentlichen die Ukrainer nicht, aber der Blutzoll unter den Soldaten und den Freiwilligen dürfte 10.000 Tote übersteigen. Eine Faustregel besagt, dass auf einen getöteten Soldaten drei bis vier Verletzte kommen. Trotz der Waffenschwemme aus dem Westen wird auch das Material der ukrainischen Armee zu immer größeren Teilen aufgebraucht. Die Luftabwehr ist inzwischen quasi inexistent, die Luftwaffe ebenso, Seestreitkräfte gibt es überhaupt nicht mehr und es mangelt genauso an Panzern und Artillerie wie an Munition für die Geschütze. Der Abnutzungskampf fordert zwar auch auf russischer Seite seinen Tribut. Aber obwohl die Ukraine vor Kriegsbeginn über die größte Armee Europas verfügte, liegen Russlands Ressourcen doch um einiges darüber. So fliegt die russische Luftwaffe amerikanischen Geheimdienstangaben zufolge zuletzt rund 300 Angriffe pro Tag, die noch flugfähigen Kampfjets der Ukrainer hingegen lassen sich hingegen vermutlich an einer Hand abzählen.

Der stellvertretende Polizeichef der Region Saporischschja stellt die neuen Autokennzeichen vor
Der stellvertretende Polizeichef der Region Saporischschja stellt die neuen Autokennzeichen vor Foto: Telegram

Russland besetzt in der Ukraine wesentlich größere Gebiete, als dies vor dem 24. Februar und dem Beginn der sogenannten „militärischen Spezialoperation“ der Fall war. Der Nord-Krim-Kanal in der Region Cherson wurde früh in der Offensive von den Russen freigekämpft. Seither fließt wieder Wasser auf die Halbinsel Krim, die Russland 2014 erst besetzt und dann annektiert hatte. Es ist kaum vorstellbar, dass Russland diese Gebiete nach einem Friedensschluss, den es irgendwann geben werden muss, freiwillig an die Ukraine abtreten wird. In den von den Russen gehaltenen Gebieten im Süden werden neue Autokennzeichen verteilt, immer mehr Straßenschilder sind auf Russisch. „Russland ist für immer hier!“, sagte der Generalsekretär der Kremlpartei Geeintes Russland, Andrej Turtschak, bei einem Besuch in Cherson. Dort sollen bereits russische Pässe ausgegeben werden, der Rubel soll zum einzigen Zahlungsmittel werden. Dies wäre eine Entwicklung wie in den 2014 begründeten Volksrepubliken der prorussischen Separatisten in Donezk und Luhansk in der Ostukraine.

Kiew sieht „neue, lange Phase des Kriegs“

Bis auf Odessa haben die Russen alle ukrainischen Seehäfen eingenommen. Und auch Odessa ist blockiert, da Russland die nur 35 Kilometer vor der Küste liegende Schlangeninsel besetzt hält. Russlands Wirtschaft ist aufgrund der westlichen Sanktionen um sieben Prozent eingebrochen. Jene der Ukraine aber liegt am Boden. Wie der Economist schreibt, kollabierte das ukrainische Bruttoinlandsprodukt um knapp 50 Prozent. Jedes vierte Unternehmen musste seinen Betrieb einstellen. Der Ukraine gehen täglich 170 Millionen Dollar verloren, weil es keinen Weizen und anderes Getreide exportieren kann. Wegen der vielen zerstörten Öllager wird der Treibstoff immer knapper, vor den Tankstellen bilden sich lange Schlangen.

Zahllose Straßen, Brücken und Industrieanlagen liegen in Schutt und Asche. Immer wieder treffen russische Raketen aus der Ferne die Umspannwerke und Trafos der ukrainischen Bahninfrastruktur. Vor dem Krieg lebten in der Ukraine 37 Millionen Menschen in den von der Regierung kontrollierten Regionen, also außerhalb der von Russland annektierten Halbinsel Krim und der pro-russischen Separatistengebiete im Osten der Ukraine. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs sind dem UN-Flüchtlingswerk UNHCR zufolge mehr als sechs Millionen Menschen aus dem Land geflohen. 90 Prozent der ins Ausland geflüchteten Ukrainer sind Frauen und Kinder. Dürften auch die Männer die Ukraine verlassen, was wegen des Kriegs untersagt wurde, wäre diese Zahl vermutlich um einiges höher. Auch im Mai hielt der Exodus weiter an: Seit Monatsbeginn flohen fast 500.000 Menschen vor den Gefechten ins Ausland. Darüber hinaus schätzt die Internationale Organisation für Migration (IOM), dass rund acht Millionen Menschen innerhalb der Ukraine auf der Flucht sind.

Was das Land braucht, um diesen Krieg zu gewinnen, wird immer deutlicher. Ohne langfristige und zuverlässige Unterstützung aus dem Westen wird das nicht gelingen. Der ukrainische Verteidigungsminister Oleksiy Reznikov schrieb vor wenigen Tagen bei Facebook, er hoffe, eine Million Kämpfer bewaffnen zu können, während sich das Land auf eine „neue, lange Phase des Krieges“ vorbereite. Man brauche jetzt „Einigkeit, Zusammenhalt, Willen und Geduld“. Diese Fähigkeiten wird auch der Westen brauchen, wenn der bisherige Einsatz für die erfolgreiche Verteidigung der Ukraine nicht umsonst gewesen sein soll. In der Ukraine herrsche jetzt ein „Abnutzungskrieg mit offenem Ausgang“, sagt Militärexperte Markus Reisner. Beide Seiten würden „so lange aufeinander einschlagen, bis eine nachgibt“. Die Frage, die sich jetzt stellt, so Reisner, „ist, wer den längeren Atem hat“.

Peter /
18. Mai 2022 - 10.51

@ Beobachter / "Krieg gegen Russland" ... was haben Sie denn da Beobachtet?

Beobachter
18. Mai 2022 - 9.46

Der Krieg gegen Russland ist nicht so leicht zu gewinnen wie der ESC.Ein Teil des Asow Regiments hat endlich kapiert. Der Rest folgt früher oder später! Früher wäre besser, sonst gibt es mehr Tote und Verletzte, was zu vermeiden wäre.

w.d.
18. Mai 2022 - 6.45

Endlich mal ein sachlicher und vor allem objektiver Artikel!