Belarus / Warum ein Blogger zum Staatsfeind wurde

Aufgedunsenes Gesicht und ein dunkler Fleck auf der Stirn: Roman Protassewitsch legte ein angebliches Schuldgeständnis ab (Foto: dpa/Telegram)
Mit einem höchstwahrscheinlich erzwungenen Schuldgeständnis von Roman Protassewitsch verrät das Minsker Regime seine Methoden. Warum ist es hinter dem Aktivisten her?
Wenn das angebliche Schuldgeständnis von Roman Protassewitsch irgendetwas beweist, dann die Perfidie des belarussischen Regimes. Minsk hat auf einem Telegram-Kanal einen Clip veröffentlichen lassen, in dem sich der 26-jährige Blogger geständig zeigt. Protassewitsch spult offensichtlich vorgegebene Sätze ab: Er verspricht die Zusammenarbeit mit den Ermittlern und gibt zu, „dass ich Massenunruhen in Minsk organisiert habe“. Er befindet sich seiner Aussage zufolge im Untersuchungsgefängnis Nummer 1 im Zentrum von Minsk. Die Behörden würden sich „maximal korrekt und gesetzeskonform“ verhalten, er habe keinerlei Probleme. Protassewitschs Gesicht wirkt aufgedunsen, ein dunkler Fleck ist auf seinem Gesicht zu sehen. Wurde er etwa geschlagen?
Solche Bekenntnisse kommen normalerweise durch Druck, Einschüchterung und physische Gewalt zustande. Es sind Methoden, die an dunkle Sowjetzeiten erinnern. Der belarussische KGB wendet sie noch heute an. Und will damit zeigen: Protassewitsch, Mitbegründer und zeitweiliger Chefredakteur des populären Telegram-Kanals „Nexta“, ist gebrochen. Auch Swetlana Tichanowskaja musste einst in einem unwürdigen Clip ihre Niederlage bei der Präsidentenwahl erklären.
Kein Einzelfall
Aber warum hat Protassewitsch den Zorn des Regimes auf sich gezogen? Der Belarusse war schon früh politisch aktiv, arbeitete zunächst als Journalist und Fotograf. 2019 zog er nach Polen um. Bekannt wurde er einem breiteren Publikum als eines der beiden bekannten Gesichter von „Nexta“. Das soziale Medium, dem teilweise mehr als zwei Millionen Menschen folgten, spielte während der Massenproteste nach der gefälschten Präsidentenwahl im August 2020 eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung und Koordinierung. „Nexta“ veröffentlichte Informationen über Treffpunkte und Routen von Demonstrationen und gab Verhaltenstipps gegenüber den Sicherheitsbehörden.
„Nexta“ – gesprochen „Nechta“ – bedeutet „Irgendwer“ und steht damit symbolisch für einen dezentralen Protest, der ohne charismatische Anführer auskommt und häufig seine Formen wechselt, um damit die Organe ständig vor neue Herausforderungen zu stellen. Es ist wohl kein Zufall, dass Lukaschenko sich ausgerechnet darauf verbissen hat, einen – aus seiner Sicht – „Drahtzieher“ der Bewegung in die Hände zu bekommen. Doch wäre der Erfolg von „Nexta“ nicht möglich gewesen ohne den entsprechenden Einstellungswandel in der Bevölkerung.
Der Fall Protassewitsch hat international viel Aufmerksamkeit erregt. Die Umstände der Verhaftung des Aktivisten sind ohne Frage spektakulär. Doch Roman Protassewitsch ist kein Einzelfall. Im Gegenteil: Die Repressionswelle der Behörden ist so gewaltig, dass man leicht den Überblick verlieren kann.
Seit vergangenem Sommer sind Tausende Menschen nach Protesten festgenommen worden. Zwischen August 2020 und April 2021 wurden mehr als 3.000 Strafverfahren im Zusammenhang mit den Protesten eingeleitet. Die belarussische Menschenrechtsorganisation Viasna zählt derzeit 421 Menschen, die aus politischen Gründen hinter Gittern sind. Auch die Herausforderer Lukaschenkos, Viktor Babariko und Sergej Tichanowskij, sitzen noch immer in U-Haft, ebenso wie Mitarbeiter ihrer Wahlstäbe. Zu ihnen gehört auch die bekannte Aktivistin und Musikerin Maria Kolesnikowa, die sich im September 2020 gegen ihre Abschiebung in die Ukraine zur Wehr setzte. Eine Beschwerde gegen die Verlängerung ihrer U-Haft wurde unlängst abgelehnt – nicht zum ersten Mal.
Erst am Dienstag verurteilte ein Gericht in der Stadt Mogiljow in einem Geheimprozess sieben junge Menschen zu Lagerhaft zwischen vier und sieben Jahren. Die meisten Verurteilungen dieser Tage werden mit dem „Aufruf zu Massenunruhen“ begründet. Es ist nicht bekannt, was den Betroffenen genau vorgeworfen wird. Die Jugendlichen waren schon früher politisch aktiv und haben sich an Kundgebungen beteiligt. Viasna zählt auch sie zu den politischen Gefangenen.
International im Aus
Das Minsker Regime hat sich durch die Flugzeug-Kaperung international ins Aus manövriert. Doch das Regime versucht, vor dem heimischen Publikum den Fall Protassewitsch propagandistisch zu nutzen. Lukaschenko wird am heutigen Mittwoch mit einer Ansprache vor die Öffentlichkeit treten. Das Transportministerium veröffentlichte am Dienstag ein mutmaßliches Transkript des Gesprächs zwischen Pilot und Fluglotsen, das seine Version einer „freiwilligen“ Umkehr der Maschine stärken soll.
Wir können nicht in Minsk landen. Ich komme ins Gefängnis. Mir droht die Todesstrafe.der verhaftete Blogger, noch während des Fluges
Ein Fluglotse erklärt darin, laut „Geheimdiensten“ befinde sich eine Bombe an Bord, die „über Vilnius aktiviert“ werden könne. Er empfehle die Landung in Minsk. Der Pilot will wissen, woher die Information komme – Athen oder Vilnius? Darauf der Lotse: E-Mails seien an mehreren Flughäfen eingegangen. Bekanntlich hat sich ein angebliches Bekennerschreiben der Hamas als Fake herausgestellt. Auch drei in Minsk von Bord gegangene Passagiere wurden vor die Kamera des Staatsfernsehens gezerrt, um die von Beobachtern geäußerte These der Beteiligung „russischer Spione“ zu entkräften.
Protassewitsch drohen nun bis zu 15 Jahre Haft wegen der „Organisation von Massenunruhen“. Mitstreiter befürchten die Verhängung der Todesstrafe. Als der Blogger von der Umkehr des Flugzeugs erfuhr, wusste er, was ihn in Minsk erwarten würde. Das geht aus der Schilderung einer litauischen Passagierin hervor, die direkt hinter ihm saß. Als der Pilot die Kursänderung durchgab, sei er in Reihe 19 aufgesprungen, wie sie gegenüber dem Tageblatt schildert. „Wir können nicht in Minsk landen. Ich komme ins Gefängnis. Mir droht die Todesstrafe“ – das waren seine Worte an das Kabinenpersonal. Protassewitsch habe am ganzen Körper gezittert, so die 27-Jährige. „Ich habe noch nie in meinem Leben jemanden gesehen, der so verängstigt und entsetzt war.“ Später beruhigte er sich, sprach mit seiner Freundin, der Russin Sofia Sapega. Nach der Landung benutzten die beiden getrennte Ausgänge. Doch auch Sapega wurde aus den Fluggästen herausgefischt. Sie wird nun im berüchtigten Haftzentrum Okrestina in Minsk festgehalten, das durch Folterfälle bekannt wurde. Auch ihr werden nun Straftaten vorgeworfen – welche, ist bisher nicht bekannt.
So sieht Gewalt, Diktatur und Folter aus liebe Genossen, die noch gestern den Vergleich dieses Ereignisses mit dem Snowden-Vorfall von 2013 versuchten. Ich hoffe, dass das Gefühl für Verhältnismässigkeit beim Anblick dieser Bilder zurückkehrt ?