„Journée de l’aidant“Warum die Rolle pflegender Angehöriger unterschätzt wird

„Journée de l’aidant“ / Warum die Rolle pflegender Angehöriger unterschätzt wird
Bernadette Schmit (90) ist auf Pflege angewiesen. Dank ihres Lebensgefährten „Johny“ Clemens (75) kann sie zu Hause versorgt werden. Pflegende Angehörige leben ein Schattendasein in der Gesellschaft. Der „Tag der pflegenden Angehörigen“ will das ändern.  Foto: Editpress/Julien Garroy

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Kinderlos, ein gewisses Alter und gesundheitlich nicht mehr fit genug, um allein zurechtzukommen. So geht es vielen. Oft bleibt da nur der Tausch der vertrauten, eigenen vier Wände gegen einen Platz im Pflegeheim. Bernadette Schmit bleibt das mit ihren 90 Jahren erspart. Sie lebt weitgehend autonom in ihrer Wohnung in Esch. Ohne die Hilfe ihres Lebensgefährten wäre das nicht möglich.

Emile Joseph Jean „Johny“ Clemens (75) ist morgens der Erste, der Leben in die Wohnung bringt. Er bereitet das Frühstück zu. Da ist seine Lebensgefährtin Bernadette Schmit (90) oft noch nicht wach. Wenn der Pflegedienst eine halbe Stunde später kommt, steht sie auf. Pfleger helfen beim Waschen und Ankleiden. Dann steht das Frühstück im Esszimmer parat.

Bernadette liebt Brot mit Pflaumenmarmelade. Noch ein bisschen später trifft die Krankenschwester ein. Bernadette braucht neue Bandagen an den Beinen, um die Blutzirkulation zu stärken. Ihre Medikamente werden für den Tag vorbereitet. In der Zeit räumt Johny den Tisch ab und spült das Geschirr. Wenn das erledigt ist, geht er raus. Jeden Tag kauft er sich eine Zeitung und dreht zu Fuß eine kleine Runde durch Esch.

Gemeinsam spazieren gehen, so wie früher, das geht seit mehr als zwei Jahren nicht mehr. Die Runde morgens ist seine einzige freie Zeit. Lange können beide ihr Rentendasein genießen, dann kommt der Einbruch. Mit der Gesundheit geht es schnell bergab. Auf einer Reise auf die Kanarischen Inseln 2019 bemerkt er, dass Bernadette abwesend ist, Erinnerungslücken hat, müde und abgekämpft wirkt und schwer atmet.

Wichtiger Ansprechpartner für den Pflegedienst 

„Aide-soignant“ Dany Leger: Er versorgt ein gutes Dutzend älterer Menschen täglich
„Aide-soignant“ Dany Leger: Er versorgt ein gutes Dutzend älterer Menschen täglich Foto: Editpress/Julien Garroy

Zurück in Luxemburg findet er sie eines Morgens im Flur auf dem Boden liegend. Ohnmächtig. „Das war ein Schock“, sagt er. Im Krankenhaus werden Atem- und Herzprobleme festgestellt. Zurück zu Hause bleiben die Probleme, sie kann nicht mehr gut laufen, an größere Strecken ist gar nicht zu denken. Schon das Aufstehen aus einem Sessel oder vom Stuhl wird zur Herausforderung. Sie kann sich selbst im Alltag nicht mehr versorgen.

Bernadette hat keine Kinder und ist seit 1995 verwitwet. Johny ist ihr einziger sozialer Kontakt. „Wenn er nicht wäre, wäre ich schon längst im Pflegeheim“, sagt sie. Johny hatte selbst schon einen „kleinen“, wie er sagt, Schlaganfall gehabt. Sich um sie zu kümmern und jeden Tag, der bleibt, gemeinsam zu verbringen, ist seitdem sein Lebensinhalt. Er regelt den Alltag und die Rollen sind vertauscht. Er wäscht die Wäsche, kauft ein, spült das Geschirr und sorgt nicht nur für einen geregelten Tagesablauf, sondern auch dafür, dass es ihr an nichts fehlt.

Dany Leger (45) weiß das zu schätzen. Für den „Aide-soignant“ ist er ein wichtiger Ansprechpartner, wenn es darum geht, sich schnell einen Überblick zu verschaffen. Der Pfleger kommt täglich, aber nur für eine Stunde insgesamt über den Tag verteilt.Wenn er das erste Mal auftaucht, kann Johny schon die Tagesform von Bernadette weitergeben. „Dank ihm weiß ich immer, wie es ihr wirklich geht“, sagt Leger. „Auch wenn sie sagen würde, es geht ihr gut.“

Gruppe der über 65-Jährigen wächst am stärksten

Wie wichtig Johny ist, bestätigen Insider des Pflegesektors. „Nahe Angehörige oder Freunde sind essenziell, wenn es um die Vermittlung zwischen der Pflegeperson und den Gesundheitsfachkräften geht“, sagt Stéphanie Conter (41). Sie ist Projektleiterin beim Pflegedienst Help und koordiniert das Projekt „aidant.lu“. Pfleger Dany ist für die Körperhygiene zuständig, kleidet Bernadette ein, bringt sie sie auf die Toilette und schaut, dass sie ihre Medikamente nimmt.

Bernadette selbst ist stolz. Nach ihrem zweiten Sturz mit einem erneuten Krankenhausaufenthalt hat sie große Fortschritte gemacht. Dank Physiotherapeuten kann sie wieder alleine vom Sitzen aufstehen. Das war lange nicht möglich. Und wenn es nicht geht, ist Johny da und hilft. Immer und den ganzen Tag. Im „Langzeitpflegereport 2021“ bescheinigt die EU-Kommission Luxemburg, dass im Land Menschen im Alter von 65 Jahren und darüber unter den EU-27-Mitgliedstaaten bis 2050 am stärksten zunehmen.

Im Flur steht das Sauerstoffgerät bereit
Im Flur steht das Sauerstoffgerät bereit Foto: Editpress/Julien Garroy

Prognosen des Berichts besagen, dass Zahl der potenziell Pflegebedürftigen von 55.700 im Jahr 2019 auf 68.500 im Jahr 2030 und auf sogar 88.700 im Jahr 2050 steigt. Dass sie steigen, belegen Zahlen der „Inspection générale de la sécurité sociale“ (IGSS). 2020 haben laut letztem verfügbaren Geschäftsbericht 15.468 Personen von der Pflegeversicherung profitiert. Das waren 2,2 Prozent mehr als 2019.

Bernadette ist eine von aktuell rund 8.800 Personen, die pflegebedürftig sind, aber zu Hause versorgt werden. Dank Johny. Sie gehört damit zu den zwei Dritteln der Menschen, die die Pflegeversicherung in Luxemburg in Anspruch nehmen. 72 Prozent davon wiederum profitieren von der Pflege durch einen Angehörigen – entweder allein oder in Kombination mit einem Pflegedienst. Diese Fakten gehen aus einer im Juni 2022 vom Sozialministerium vorgestellten Studie hervor. Johny, der bis zu seiner Pensionierung als Rangier- und Weichensteller für die Züge in der Stahlindustrie gearbeitet hat, macht das unentgeltlich.

„Die Pflege durch Familienmitglieder, Freunde und Nachbarn ist ein wesentlicher Bestandteil des Langzeitpflegesystems“, sagt Help-Projektleiterin Conter. Eine Lobby haben diese Menschen nicht. Trotz hohem Beitrag für die Gesellschaft frönen sie ein Schattendasein. Der „Tag der pflegenden Angehörigen“, wie es ihn schon in anderen Ländern gibt, will das ändern. „Wir wollen, dass diese Menschen die Ehre erfahren, die ihnen gebührt“, sagt Conter. Sie hat die zweite Auflage des Projektes maßgeblich mitgestaltet. Bleibt zu wünschen, dass möglichst viele Zeit finden und kommen können.

Tag der pflegenden Angehörigen 

Die zweite Auflage der „Journée de l’aidant“ findet am 7. und 8. Oktober in verschiedenen Pflegeeinrichtungen des Landes statt. Weitere Infos zur Anmeldung und zum Programm finden sich unter www.aidant.lu/agenda.

In vielen Fällen geht es nicht ohne medizinisches Gerät und spezielle Betten
In vielen Fällen geht es nicht ohne medizinisches Gerät und spezielle Betten Foto: Editpress/Julien Garroy

JJ
6. Oktober 2022 - 19.04

Wir haben in unserer Turbo-Welt vergessen,dass früher die Alten zuhause versorgt wurden. Von ihren Angehörigen,wer immer das war.Man stelle sich das einmal vor. Die Alten werden von ihren Kindern versorgt? Heute können die Kinder ihre Kinder nicht mehr versorgen.Crèche,Kita,Tagesmutti,(vati) usw. Warum wohl? Ja, da gibt es Experten(wie immer) die erklären uns das. Was mich nachdenklich stimmt.Nie war die Zahl der Experten so groß wie heute.Tendenz steigend. Aber zurück zu den Alten.Ich bin bald 70.Meine älteste Verwandte ist 95.Sie lebt nicht bei mir sondern im Pflegeheim. Ich könnte die Sache auch nicht alleine meistern,wundere ich mich doch jeden morgen,dass ich noch wachgeworden bin.Denn was nützt es wenn der Pfleger schneller altert als der Pflegefall? Wir werden älter als die Natur es eigentlich zulässt.Dank Medizin und hohem Lebensstandard. Aber ist es wirklich immer den Einsatz wert? Wenn ich im Rollstuhl sitze,den Kopf nach hinten im Genick mit geöffnetem Mund und ich kann nicht sagen wo es mich juckt? Nein,danke. Aber zum Thema: Respekt für alle die helfen können,zuhause und ohne Bezahlung die keiner mehr leisten kann.