Was haben der im Meer versinkende pazifische Inselstaat Tuvalu, koloniale Raubkunst in den Sammlungen europäischer Museen und Werksschließungen von großen Automobil- und Stahlkonzernen gemeinsam? Was eint die „Gilets jaunes“ auf den Straßen Frankreichs und die „Incels“ in den Weiten des Internets? Wenn es nach dem deutschen Soziologen Andreas Reckwitz geht, zeigt sich in all diesen unterschiedlichen Beispielen ein und dasselbe Grundproblem der Moderne: der Verlust.
Ob Klimawandel oder Deindustrialisierung, die Veränderungen von Arbeitswelt oder Geschlechterrollen, die Dinge sind heute nicht mehr so, wie sie früher einmal waren. Lebensräume, Arbeitsplätze, Privilegien – die westliche Gegenwartsgesellschaft werde in großer Zahl und Vielfalt von Verlusten bzw. von Verlustängsten bedrängt, schreibt Reckwitz in seinem Buch „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“, das vor wenigen Wochen im Suhrkamp-Verlag erschienen ist. Es ist ein großer Wurf: eine Theorie der Moderne, eine Welt- und Gegenwartserklärung, aufgebaut auf einem einzigen Gefühl. Ein Gefühl, das den Erfolg von Donald Trump ebenso erklären will wie die Klimakleber der Letzten Generation.
Das Futur II der Postapokalypse
Und in der Tat: Wenn man so tagein, tagaus die Zeitungen durchblättert und die Nachrichtenseiten durchscrollt, bedrängt einen das Gefühl, dass hier tatsächlich etwas ganz Grundlegendes aus dem Ruder gelaufen ist. Dass die Zukunft düstere Aussichten bereithält. Cédric Feyereisen brachte es kürzlich in seinem Leitartikel auf den Punkt: „We’re fucked.“ Angesichts der unzureichenden Klimaschutzmaßnahmen sei die Klimakatastrophe nicht mehr zu verhindern – „wir können jetzt nur noch beeinflussen, wie schlimm sie wird“. Reckwitz nennt dies das „Futur II der Postapokalypse“, oder: „Verluste werden eingetreten sein.“ Diese Sichtweise sei charakteristisch für unsere Gegenwartskultur. Es gehe nunmehr nicht nur um real erlittene Verluste, sondern auch um antizipierte Verluste.
Es lässt sich nicht leugnen, das Versprechen vom immerwährenden Fortschritt, es klingt im Jahr 2024 schal und abgestanden. Der britische Schriftsteller Oscar Wilde soll einmal gesagt haben: „Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, dann ist es noch nicht zu Ende.“ Hält das noch dem Realitätscheck stand? Für Reckwitz steckt in dieser Alternativlosigkeit der ewigen Besserung das Credo der Moderne, das Versprechen nach einem Leben ohne Leid. Fortschritt (gesellschaftlich wie technisch) wird das Leben aller verbessern und verlängern und – wenn es nach dem Bestreben einiger Silicon-Valley-Größen geht – eines Tages sogar den Tod überwinden.
Wir müssen an dieser Stelle kurz innehalten. Denn interessanterweise ist Andreas Reckwitz in diesem Herbst nicht der einzige berühmte Soziologe, der die Gegenwart durch eine Brille von Gefühlen zu verstehen sucht. Auch Eva Illouz treibt in „Explosive Moderne“ (ebenfalls Suhrkamp) eine ähnliche Idee an. Es lohnt, die beiden Autoren nebeneinander zu lesen. Dort, wo Reckwitz vom Fortschrittsglauben spricht, schreibt Illouz von der „Hoffnung“, die ein fester Bestandteil der Struktur des modernen Lebens geworden sei. Jede Krise, so die israelische Soziologin, impliziere die Erwartung, dass sie gelöst werden könne. „Wer keine Hoffnung hat, dem fehlt ein grundlegendes Merkmal dessen, was es heißt, ein Bürger oder eine Bürgerin in der modernen Gesellschaft zu sein.“
Interessant ist nun: Ob man es Hoffnung oder Fortschrittsglaube nennen will, sowohl Illouz als auch Reckwitz sind sich einig – die Rechnung geht nicht mehr auf. „Eine Gesellschaft, die auf Verbesserung geeicht ist, hat kein Skript, um Verschlechterungen zu begreifen“, sagt Reckwitz. Für solch eine Gesellschaft müssen Verlusterfahrungen zwangsläufig Enttäuschungen sein. Eine Zeitlang habe sich die westliche Moderne mit diesem Problem noch arrangieren können, schreibt der Soziologe, in den letzten zwei Jahrzehnten aber sei es zu einer „Verlusteskalation“ gekommen. Von 9/11 über die Finanzkrise bis zur Covid-Pandemie: „In Folge dessen ist der Fortschrittsglaube brüchig geworden und die Verlustrealität hat eine unwiderstehliche Präsenz entfaltet“, so Reckwitz.
Populisten als Verlustunternehmer
Die Politik steht angesichts dieser „Verlusteskalation“ vor einem Dilemma. Auf der einen Seite die Fortschritts-DNA unserer Gesellschaften, auf der anderen die Polykrise. Besonders hart trifft das die Sozialdemokraten und Sozialisten, die Fortschrittsparteien schlechthin. Ihnen geht ein Narrativ verloren, das sie durch das letzte Jahrhundert getragen hat: Vorwärts in ein besseres Morgen! Wie kann progressive Politik aussehen, in einer Zeit, in der die Zukunft keine Zukunft mehr hat? Es gibt bislang keine neuen Rezepte. Ein einsamer Versuch war 2022 der für einen Politiker so radikale Satz des deutschen Wirtschaftsministers Robert Habeck: „Wir werden ärmer werden.“ Wahlen gewinnt man mit solchen Sätzen nicht.
Wo die einen nicht mehr weiterwissen, blühen die anderen auf. Es beginnt das Zeitalter der Populisten, denn sie inszenieren sich als Heimat der Verlorenen. „Populismus kann man nur verstehen, wenn man ihn als Verlustunternehmertum begreift“, sagt Andreas Reckwitz. Im Populismus werden Verluste kapitalisiert: Wir bringen euch die Welt von gestern zurück, bevor sie verloren war! Der intrinsische Widerspruch dieses Versprechens wird dabei einfach ignoriert. Denn Verluste sind per Definition irreversibel – so wie der Tod, der paradigmatische Verlust. Populisten behaupten trotzdem das Gegenteil: Ja, wir können zurück. Make America Great Again.
Wir müssen uns Fortschritt und Nostalgie wie zwei Seiten derselben Medaille vorstellen, wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Oder wie Eva Illouz es ausdrückt: „Wird die Heimatlosigkeit politisch instrumentalisiert, erschafft die Nostalgie eine imaginierte verlorene Gemeinschaft, die Größe erlangt, weil sie verloren ist, und in ihrer verlorenen Größe die Unzufriedenheit schürt.“ In seinem Wirkmechanismus ist das nicht weit von Karl Marx’ Idee der Entfremdung im Kapitalismus entfernt. Der Unterschied: Sowohl Marx als auch der Kapitalismus stehen für eine fortschrittsorientierte Ideologie. Die Zukunft, entweder in der klassenlosen Gesellschaft oder im freien Spiel der Märkte, wird besser sein. Das einzige Ziel einer Politik der „restaurativen Nostalgie“, wie sie Illouz nennt, ist die Vergangenheit.
Populisten stellen aktuell als Einzige die positive Zukunftsperspektive in Frage. Und scheinen damit den Zeitgeist zu treffen. 84 Prozent der Deutschen blicken laut einer Studie der Uni Bonn aus dem Jahr 2022 pessimistisch in die Zukunft. In den USA waren es laut einer Untersuchung des Pew Research Center im Jahr 2023 57 Prozent. In Luxemburg manifestiert sich dieser Trend in der ADR und ihrer Wachstumskritik, genauer: dem Bedrohungsszenario des Eine-Million-Einwohner-Staates angesichts von Wohnungsnot und Infrastrukturengpässen. Der skeptische Blick in die Zukunft wird zum Alleinstellungsmerkmal der Populisten, auch wenn diese nur Slogans und keine echten Lösungen bieten. Armand Back hat das vor ein paar Tagen in seinem Leitartikel treffend analysiert. Das Feld wird der ADR überlassen, eine konstruktive Wachstumsfrage stellt niemand. Im Gegenteil: Wirtschaftswachstum soll für die Regierung Frieden noch immer alle Probleme lösen. Dieser allzu blinde Fortschrittsoptimismus könnte bald nicht mehr aufgehen. Schon heute steht er in scharfem Kontrast zu den Lebensrealitäten vieler Menschen.
Eine Besserung ist vorerst nicht in Sicht. Das gesellschaftliche Klima, von dem die Populisten profitieren, scheint sich nur weiter aufzuwärmen. Denn je stärker diese werden, desto größer werden andererseits die Verlustängste der Links-Liberalen und Progressiven im Hinblick auf Demokratie, Freiheit und den Rechtsstaat. Die nächste Verlusteskalation steht schon an.
So erhellend die Erklärungsversuche und Interpretationsfolien der beiden Soziologen Reckwitz und Illouz sind, so dürftig fallen am Ende auch ihre Blicke in die Zukunft aus. Während Illouz auf die revolutionäre Kraft der Gefühle setzt, um neue innere und soziale Wirklichkeiten herbeizuführen, fordert Reckwitz eine „Reparatur der Moderne“, eine Neuorientierung weg vom zwanghaften Fortschrittsglauben, hin zu einer radikalen Offenheit auch gegenüber negativen Entwicklungen und Katastrophen. Wie diese politisch zu vermitteln sein wird, könnte eine der größten Herausforderungen der kommenden Jahre werden.
Literatur
– Andreas Reckwitz, „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“, Suhrkamp 2024, ISBN 978-3-518-58822-2
– Eva Illouz, „Explosive Moderne“, Suhrkamp 2024, ISBN 978-3-518-43206-8
De Maart

Und der Narr Trump soll das alles richten? Wie naiv kann man denn sein?
Liest sich ja vom philosophischen standpunkt interessant....scheint mir aber nicht neu oder brandaktuell.
Verluste und gewinne gab es auch schon im antiken Rom oder spaetem mittelalter...genauso verlierer und gewinner.
Da aendert sich grundlegend nicht viel im lauf der geschichte.