InterviewVirologe Claude Muller über Luxemburgs Infektionszahlen, sanfte Maßnahmen und Risikogebiete

Interview / Virologe Claude Muller über Luxemburgs Infektionszahlen, sanfte Maßnahmen und Risikogebiete
Professor Claude Muller sieht noch kein Licht am Ende des Corona-Tunnels Foto: Editpress/Didier Sylvestre

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Fast auf den Tag vor sieben Monaten musste Luxemburg in den Lockdown. Inzwischen haben die Infektionszahlen wieder ähnliche Höhen erreicht. Ins Krankenhaus müssen aber nur wenige Patienten. Machen wir also alles richtig in dieser neuen Normalität? Virologe Claude Muller vom Luxemburg Institute of Health sieht gute Ansätze – aber auch große Gefahren.

Tageblatt: Die Infektionszahlen haben wieder Lockdown-Niveau erreicht. Müssen wir uns akute Sorgen machen?

Claude Muller: Die Altersverteilung ist eine andere als noch im März oder April. Damals waren viele ältere Menschen dabei. Diesmal ist sie günstiger, was sich an den niedrigeren Hospitalisierungszahlen zeigt. Damals waren bei bis zu 200 Neuinfektionen pro Tag bis zu 50 Patienten auf Intensivstationen. Jetzt haben wir ähnlich viele Fälle, aber nur eine knappe Handvoll Menschen in Intensivbehandlung.

Das klingt doch eher beruhigend, oder?

Es gibt leider ein Aber. Ein großes sogar. Die vergangenen vier, fünf Wochen hat sich die Zahl der Neuinfektionen in den erwachsenen Alterskategorien verdoppelt. Bei den Ü-60 hat sich die Zahl allerdings verdreifacht, fast vervierfacht. Bei den Ü-70 kamen vier- bis fünfmal so viele Neuinfektionen pro Woche hinzu. Greifen wir da nicht ein, bekommen wir ein Problem in den hohen Alterskategorien, und damit wieder eine zunehmende Belastung der Krankenhäuser.

Einen zweiten Lockdown will niemand haben.

Ich auch nicht! Wir sollten gezielter eingreifen. Bei jenen, die vom Alter her vulnerabel, nicht im aktiven Arbeitsprozess eingebunden und leichter zu isolieren sind, ohne die Wirtschaftsentwicklung lahmzulegen.

Es gibt noch gewisse Einschränkungen, aber im öffentlichen Leben ist fast alles wieder möglich. Ist das nicht eine zu harte Strafe für ältere Menschen, von allem und insbesondere vor allen wegbleiben zu müssen, damit andere ihr Leben schneller wieder genießen können?

Das Virus macht einen großen Unterschied zwischen Jung und Alt. Die einen sind mehr gesundheitlich bedroht, die anderen mehr wirtschaftlich. Das bedingt unterschiedliches Vorgehen. Alle mit den gleichen Maßnahmen schützen zu wollen, würde dem Virus nicht gerecht werden.

Könnte verstärktes Home-Office auch wieder helfen?

Auf jeden Fall! Home-Office ist eine Möglichkeit, aus der Distanz zu arbeiten, ohne der Wirtschaft zu schaden. Wieso also nicht davon profitieren?

Die Maskenpflicht in Luxemburg ist im internationalen Vergleich bereits eher weitgehend, eigentlich wird nur draußen keine gebraucht, und auch das nur unter Einhaltung anderer Distanzierungsregeln. Wie soll da noch nachgeschärft werden?

Richtig, aber sie wird teilweise eher großzügig gehandhabt. Der wichtigste Ansatz bleibt ohnehin der, zu schauen, wo sich die Menschen infizieren, und das scheinen weiterhin die Familien zu sein. Ich würde gerne wissen, wo sich die über 60-Jährigen derzeit anstecken. War das in Pflegeeinrichtungen? Oder geschah das im Familienkreis? Oder waren es alleinstehende ältere Menschen, die sich beim Rausgehen angesteckt haben? Die Altersheime haben ihre Vorschriften, das lässt sich gut steuern. Und das sage ich, obwohl ich aus persönlicher Erfahrung weiß, wie schlimm das für diese Menschen und auch die Angehörigen ist. Allen anderen sage ich: Sie sollen sich wegen ihres Alters oder einer Vorerkrankung besser bemerkbar machen dürfen, um so im öffentlichen Raum von ihren Mitmenschen mit mehr Respekt und Verantwortungsbewusstsein rechnen zu können. Das ist eine Frage der Empathie, keine des Nachschärfens.

Das Virus macht einen großen Unterschied zwischen Jung und Alt. Die einen sind mehr gesundheitlich bedroht, die anderen mehr wirtschaftlich. Das bedingt unterschiedliches Vorgehen.

Sie sprechen die Familien als Infektionsherde an: Wie soll sich da gegensteuern lassen?

Älteren Menschen, die in gemischten Haushalten wohnen, etwa mit schulpflichtigen Enkelkindern, sollte, wenn sich jemand in der Wohngemeinschaft infiziert hat, die Möglichkeit geboten werden, sich vorübergehend in ein Hotel zurückzuziehen. Das wäre sicher günstiger, als wenn sie wegen Covid ins Krankenhaus müssten. Das täte auch der schwer gebeutelten Hotelbranche gut. Mit einer solchen reversen Quarantäne könnten sich gesunde, aber besonders gefährdete Personen besser vor der Ansteckungsgefahr schützen. Auch infizierte Menschen, die sich in ihrem Haushalt nicht ausreichend isolieren können, sollte die Möglichkeit einer vorübergehenden öffentlichen Unterbringung gegeben werden. So könnten Transmissionsketten in den Haushalten reduziert werden. Auf jeden Fall müssen wir Maßnahmen ergreifen und den Anstieg bei den über 70-Jährigen bremsen.

Die letzte Phase relativer Ruhe war die, als wir bis Ende Juni die Früchte des Lockdowns genießen konnten. Ab da stiegen die Zahlen an oder verharrten auf zunehmend hohem Niveau. Nur wenige aber mussten ins Krankenhaus. Führt die Fokussierung auf die Neuinfektionen, vor allem bei den vielen Tests in Luxemburg, nicht zu überzogener Angst? Anders gesagt: Könnten uns nicht sogar 500 tägliche Neuinfektionen egal sein, wenn nicht mehr Menschen ins Krankenhaus müssen?

Aus epidemiologischer Sicht wäre das nicht das größte Problem. Doch es stellen sich andere Probleme. Erstens wären wir dann wohl Dauerrisikogebiet für das Ausland, was das Leben nur noch komplizierter macht. Und zweitens kommt es immer darauf an, ob dieser Zustand, den Sie jetzt beschrieben haben, konstant ist, die Zahlen also nicht immer weiter steigen, und vor allem, ob die betroffenen Alterskategorien nicht ändern. Voraussetzung, mit so vielen Neuinfektionen leben zu können, ist eine funktionierende Trennung zwischen Jungen, Älteren und Alten.

Schüler müssen auch während des Unterrichts Maske tragen. Bietet das den erhofften Schutz?

Die Masken sind Teil der Risikoreduzierung. Eine weitere Risikoreduzierung wäre richtiges Stoßlüften, alle 20 Minuten am besten, zumindest einmal die Stunde. Wie das gehandhabt werden kann, weiß ich nicht. Was die Masken angeht, habe ich den Eindruck, dass Erwachsene sich mehr beklagen als Kinder und Jugendliche – die Masken dazu noch viel länger tragen müssen als die allermeisten Erwachsenen.

Würden Sie in Schulen noch etwas ändern?

In einem Land mit Large Scale Testing haben wir uns daran gewöhnt, dass wir nur 0,5 Prozent Positive unter tausenden Getesteten finden. In den Schulen könnten wir sehr viel spezifischer vorgehen, wenn wir bei den Schülern täglich die Temperatur messen. Klar ist, dass nicht jedes Fieber Covid-19 bedeutet und sich auch nicht jede Erkrankung durch Fieber bemerkbar macht. Trotzdem wüssten wir dann viel besser über das Infektionsgeschehen an Schulen Bescheid. Einige Studien haben gezeigt, dass etwa 50 Prozent der infizierten Kinder erhöhte Temperaturen haben. Das wäre eine ebenso sanfte wie machbare Maßnahme an Schulen, die aber offenbar im Moment politisch nicht gewollt ist.

Was die kommunizierten Zahlen angeht, wo wünschen Sie sich da mehr Transparenz?

Gezeigt werden meist kumulative Zahlen. Ich würde mir Zahlen wünschen, die uns einen Überblick darüber geben, was seit der sogenannten zweiten Welle geschieht. Um besser erkennen zu können, was sich im jetzigen Infektionsgeschehen verändert. Wir brauchen eine totale Transparenz, wer erkrankt und wer hospitalisiert wird. Auch sollten Angaben zum Infektionsgeschehen in den Gemeinden öffentlich gemacht werden. Immerhin sind die Primärschulen in die Gemeinden eingebettet. Die Gemeinden könnten eine wichtigere Rolle spielen. Sie kennen das Innenleben und genießen eine hohe Glaubwürdigkeit.

Was die Pandemie im Allgemeinen angeht, machen Sie sich noch große Sorgen oder sehen Sie ein Licht am Ende des Tunnels?

Bevor ich ein Licht am Ende des Tunnels sehen kann, muss ich erst sehen, dass die Impfstoffe funktionieren, sie vorrätig sind und genug Akzeptanz in der Bevölkerung finden.

Wo sind die Impfstoffe dran?

Eine ganze Reihe an Impfstoffen ist in klinischen Studien, einige in der letzten Phase, wo bereits an tausenden Menschen getestet wird. Sollten die funktionieren, müssen sie noch produziert werden. Davon brauchen wir dann ein paar Milliarden Dosen.

Werden wir bis Ende 2021 alle geimpft sein?   

Das ist meine Hoffnung!

Wenn man bedenkt, dass wir gerade mal sieben Monate mit der Pandemie kämpfen, erscheint der Weg bis Ende 2021 sehr, sehr weit. Und wir werden zusehends müder …

Gerade deswegen müssen wir unsere Maßnahmen gezielt einsetzen und alles in Betracht ziehen, was helfen kann.

Sie sprachen vorhin das Ausland an. Dem geht es aber nicht besser als uns. Zeigt uns das nicht, dass wir in dieser Pandemie weiterhin zu viele nationalstaatliche Reflexe an den Tag legen?

Epidemiologisch gesehen ist es immer sinnvoll, Hotspots zu isolieren. In dem Sinne ist es auch sinnvoll, Grenzübertritte zu regeln. Bislang war es so, dass die Staaten nicht immer in der gleichen Phase der Virusausbreitung waren, deswegen ergaben solche Maßnahmen zeitweise Sinn. Mittlerweile passt sich das Infektionsgeschehen aber immer mehr an.

Deutschlands Wert von 50 Neuinfektionen pro 100.000 ist in Europa zur gängigen Norm geworden. Doch sehr viele überschreiten diesen Wert mittlerweile. Ist er noch sinnvoll?

Der Wert war von Anfang an problematisch, da er wesentlich von der Anzahl der Tests abhängt. Als der Wert festgelegt wurde, gab es auch in Deutschland viel weniger Tests. Diese Zahl muss überarbeitet werden, sie ist zu pauschal und passt nicht mehr zur aktuellen Situation. Zu einem gewissen Zeitpunkt war der Wert hilfreich, inzwischen ist er es nicht mehr.