Interview mit J. Randolph EvansUS-Botschafter: „Der Wandel muss von innen kommen“

Interview mit J. Randolph Evans / US-Botschafter: „Der Wandel muss von innen kommen“
Die jüngsten Vorkommnisse haben in den USA tiefe Wunden aufgerissen. Laut Botschafter Evans könnten die Proteste dabei helfen, diese Wunden heilen zu lassen. Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

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„Ich habe euch gehört und verstanden“, ließ US-Botschafter J. Randolph Evans die rund 1.500 Demonstranten wissen, die sich am Freitag vor seiner Residenz in Limpertsberg eingefunden hatten, um Solidarität mit den Protesten in den Vereinigten Staaten zu zeigen. Zuvor hatte Botschafter Evans das Tageblatt empfangen, um über Rassismus, Chancengleichheit und den tiefen Graben zu sprechen, der die Vereinigten Staaten aktuell in mehrere Lager spaltet.

Tageblatt: Herr Botschafter, ganz ehrlich: Haben die Vereinigten Staaten ein Rassismus-Problem?

J. Randolph Evans: Natürlich! Rassismus hat den ganzen Planeten im Griff. Warum sollten die Vereinigten Staaten eine Ausnahme bilden … Man darf aber auch nicht außer Acht lassen, dass die augenblickliche Situation in den USA nicht nur mit Rassismus zu tun hat. Bei vielen Menschen hat sich Frust angestaut, der vom Shutdown um die sanitäre Krise rührt. Es bedurfte also nur eines kleinen Funken, um das Pulverfass zum Explodieren zu bringen. Dabei wurden Wunden aufgerissen, die bis heute noch nicht geheilt sind. Wir Amerikaner haben unseren gerechten Anteil an Fehlern. Ich befürchte nur, dass wir uns als Volk nicht verbessern können, wenn die Proteste im Keim erstickt werden. Unsere Nation gründet auf einer Aktion der Bürger von Boston, die im Hafen Tee über Bord der britischen Handelsschiffe geworfen haben. Protest liegt in unserer DNA.

Probleme sind aber nicht von der Hand zu weisen. Besonders was Minderheiten angeht, gibt es noch zahlreiche Unterschiede …

Vor der sanitären Krise war das Land auf dem Weg in eine Meritokratie, in der demografische Faktoren immer weniger zum Zug kommen. Das wird Präsident Trump nicht hoch genug angerechnet. Natürlich gibt es noch demografische Unterschiede, die Wunden sind immer noch vorhanden. Allerdings lagen die Beschäftigungszahlen für Minderheiten vor dem Ausbruch der Pandemie auf einem Rekordhoch. Immer mehr Menschen hatten die Möglichkeit, eine Ausbildung abzuschließen, einen Job zu finden, ein Heim zu gründen, ihre Familie zu ernähren – ganz egal welcher Hautfarbe. Zumindest waren wir der Chancengleichheit einen Schritt näher gekommen. Mir war durchaus bewusst, dass wir es nicht unbeschadet durch die Pandemie schaffen würden. Dafür haben wir zu viele Mängel. Ich wusste nur nicht, welcher Tropfen das Fass schlussendlich zum Überlaufen bringen werde. Man kann nicht unendlich Druck aufbauen, ohne dass es zur Explosion kommt. Ich hoffe zumindest, dass jetzt die Wunden offen liegen, um heilen zu können.

Sind die Ausmaße der Gewalt bei den Protesten nicht auch ein Beweis für eine tiefe Spaltung innerhalb der Bevölkerung?

Ich stimme zu. Allerdings mit dem Vorbehalt, dass die Gewalt ganz klar von den Protesten getrennt werden muss. Gewalttätiges Benehmen, das nur darauf abzielt, Mensch und Eigentum zu schaden, ist kein Protest. Es ist schlicht und einfach illegales Benehmen, das geahndet werden muss. Wandel kann auf Dauer nur bestehen, wenn ans Gewissen der Menschen appelliert wird. Nachhaltige Veränderungen können nicht mit Gesetzen, Gewalt oder der Macht des Militärs aufgezwungen werden. Das wussten bereits Dr. Martin Luther King Jr. und Mahatma Gandhi: Der Wandel muss von innen kommen.

Dem Präsidenten wird vorgeworfen, sich nicht um die Einigkeit des Landes zu bemühen. Zuletzt hat sich sogar Ex-Verteidigungsminister General James Mattis gegen ihn gewendet: Donald Trump versuche vielmehr, das Land zu spalten. Was sagen Sie dazu?

Fakt ist, dass vor Ausbruch der Pandemie immer mehr Amerikaner, ganz egal welcher ethnischen Herkunft, die Möglichkeit hatten, den amerikanischen Traum zu verwirklichen. Nie zuvor hatten so viele Menschen in den USA Zugang zu Bildung oder zu Jobs mit ordentlicher Bezahlung. So sehr ich seine Verdienste um die Vereinigten Staaten auch schätze: Als Karriere-Offizier beim Militär ist General Mattis nicht in der besten Lage, die Auswirkungen der gesteigerten Wirtschaftskraft wirklich beurteilen zu können. Fakt aber ist, dass wir jede Minderheit im Land stärken müssen. Und wir müssen sicherstellen, dass auch wirklich jeder einzelne Bürger von der Chancengleichheit profitiert. Das wurde lange Jahre verpasst. Sei es nun im Job, in der Schule oder woanders: Jeder, der hart arbeitet, soll auch den verdienten Lohn dafür erhalten.

Dennoch müssen heute noch viele junge Schwarze um ihr Leben fürchten, wenn sie etwa von der Polizei angehalten werden. Als privilegierte Weiße aber können wir uns kaum in diese Lage versetzen.

Während meiner Highschool-Zeit hatte ich einen afroamerikanischen Freund. Dort, wo ich aufgewachsen bin (US-Bundesstaat Georgia, Anm. d. Red.), war das zum damaligen Zeitpunkt höchst ungewöhnlich. Auf einer gemeinsamen Fahrt nach Panama City in Florida wurden wir gegen 2 Uhr nachts in Alabama plötzlich von einer Polizeistreife angehalten. Mein Freund sagte sofort: „Schnell, die Hand aus dem Fenster!“ Ich war natürlich perplex, doch er hielt an seiner Forderung fest. Als ich ihn zur Rede stellte, meinte er: „Ich will, dass die Cops wissen, dass wenigstens einer von uns weiß ist.“ Dieser Moment hat meine ganze Welt auf den Kopf gestellt. Bis dahin wäre ich nie und nimmer auf die Idee gekommen, dass so etwas überhaupt vorkommen kann. Für ihn aber war das Alltag. Seitdem versuche ich in jeder Lebenslage, mich in andere Menschen hineinzuversetzen. Und das gilt nicht nur für Menschen anderer Hautfarbe, sondern auch für Frauen oder Mitglieder der LGBTQ-Gemeinschaft. Seit jenem Abend weiß ich, dass mich die Diversität meiner Mitmenschen zu einer besseren Person macht. Nicht, weil einer von uns besser wäre als der andere. Sondern, weil wir alle eine andere Sichtweise mit einbringen.

Liegt die Lösung eines komplexen Problems etwa nur im Austausch?

Vielleicht. Zuerst aber müssen die Wunden heilen. Leider fällt es vielen Menschen schwer, über schmerzhafte Erinnerungen zu sprechen. Auch ist es nicht immer einfach, den Schmerz einer anderen Person nachzuvollziehen. Als junger Anwalt war ich der Vorsitzende einer Taskforce für Suizidprävention in Atlanta. Dabei haben wir auch Überlebende getroffen, von denen viele nicht über ihren Schmerz oder ihren Selbstmordversuch reden wollten. Übrigens scheint das auch in Luxemburg ein gewaltiges Problem zu sein, über das niemand reden möchte. Wie sollen wir aber eine Lösung finden, wenn wir nicht einmal darüber sprechen können? Oder schlimmer noch: Wenn wir so tun, als wäre das Problem nicht existent.

Nun war es nicht das erste Mal, dass ein Schwarzer durch Polizeigewalt ums Leben kommt. Richtige Konsequenzen wurden bisher aber nie daraus gezogen. Wird sich das nun ändern?

Ich hoffe, dass dieser Vorfall zumindest ein Bewusstsein dafür weckt, dem Rassismus in die Augen zu schauen. Vielleicht hilft die Covid-Krise dabei, reinen Tisch zu machen und Ablenkungen zu beseitigen, die uns sonst die Sicht verschleiern. Vielleicht gelangen wir auch als Nation zur Einsicht, dass die Gräben durch wirtschaftliche Ungleichheiten nur noch tiefer werden. Und wie wir uns anlegen müssen, um endlich Fortschritte erzielen zu können. Mir wird ja oft vorgehalten, immer nach einem Silberstreifen Ausschau zu halten. Ich hoffe aber aufrichtig, dass die vergangenen Wochen und Monate uns dabei helfen, die Wunden offenzulegen. Damit sie endlich heilen können.