NiederkornUnabhängig, aber nicht alleine: So sieht der Alltag in einer inklusiven WG aus

Niederkorn / Unabhängig, aber nicht alleine: So sieht der Alltag in einer inklusiven WG aus
In der inklusiven Wohngemeinschaft in Niederkorn wird gerne miteinander diskutiert – aber öfters noch zusammen gelacht Foto: Editpress/Tania Feller

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Fast zwei Jahre ist es her, dass das Konzept einer inklusiven Wohngemeinschaft in Niederkorn Gestalt annahm und Bewohnerinnen sowie Bewohner dafür gesucht wurden. Mittlerweile haben sie sich in ihrem neuen Zuhause eingerichtet. Für eine weitere Person ist noch Platz.

„Für mich ist es das erste Mal, dass ich woanders lebe“, erklärt Yana Baustert, während sie in ihrem aktuellen Zuhause in Niederkorn am Wohnzimmertisch sitzt. Seit März 2022 ist sie Mitglied einer Wohngemeinschaft (WG), deren Grundkonzept es in Luxemburg bisher so nicht gab. Denn: Yana Baustert lebt in einer inklusiven WG der „Association des parents d’enfants mentalement handicapés“ (APEMH), in der Menschen mit und ohne spezielle Bedürfnisse zusammenleben. Die APEMH ist laut dem Ministerium für Familie, Integration und die Großregion bisher der einzige Dienstleister in Luxemburg, der eine solche Wohnform anbietet. 

Die 27-jährige Yana Baustert hat kürzlich in einer „Maison relais“ ein Praktikum mit Aussicht auf Festanstellung gemacht. Und steht nach ihrem Einzug in die inklusive WG in der Niederkorner avenue de la Liberté nun auch privat auf eigenen Beinen. Dennoch ist sie nicht alleine. Denn seit September 2022 lebt dort auch Elissa Mendes. Die 22-Jährige arbeitet als Tierpflegerin im Bettemburger Märchenpark und erzählt, dass auch sie zum ersten Mal für sich lebt. Anders sieht es hingegen bei Mitbewohner Bradley Lawson aus. Er hat schon in mehreren WGs im Ausland gelebt, unter anderem in Hamburg, Tübingen oder auch Paris. 

„Das ist immer eine gute Möglichkeit, um neue Leute kennenzulernen“, sagt Bradley Lawson über seine Entscheidung, in der inklusiven WG einzuziehen. Seit Juli 2022 lebt der 28-Jährige dort. Das Gespräch mit dem Juristen zeigt, dass diese sich nicht sehr von den Wohnformen unterscheidet, in denen er zuvor gelebt hat. „Im Grunde genommen sind wir sehr unabhängig voneinander. Es ist vor allem so, dass wir viel miteinander unternehmen und miteinander sprechen“, stellt Bradley Lawson fest und erklärt, dass man sich im Alltag dann zum Beispiel gegenseitig danach erkundet, wie es bei der Arbeit oder wie der Tag war. 

Keine Zweck-WG

Mit seinem Einzug in die WG hat der offene und herzliche Mann sich dazu verpflichtet, in seiner Freizeit jede Woche etwa zehn Stunden mit der Gemeinschaft zu verbringen und seinen Mitbewohnerinnen – wenn nötig – bei den unterschiedlichsten Dingen zur Hand zu gehen. „Wir stoppen aber nicht die Uhr. Uns ging es dabei eher darum, dass es eben keine Zweck-WG werden soll“, erzählt der ebenfalls bei dem Gespräch in der WG anwesende Markus Metz von der APEMH. Das auch, da der vergünstigte Mietpreis nicht der ausschlaggebende Grund für einen Einzug sein soll. 

Aktuell sucht die WG ein neues Mitglied. Denn ein Zimmer ist noch frei. Daneben gibt es auf den mehr als 150 Quadratmetern zwei Badezimmer, ein Wohnzimmer, eine große Küche und eine Terrasse mit kleinem Gemeinschaftsgarten. Den richtigen Menschen für das Zusammenleben zu finden, ist laut Elissa Mendes gar nicht so einfach. „O Mamm!“, sagt sie und erklärt dann: „Man weiß am Anfang nicht: Ist diese Person nett, ist sie griesgrämig? Und kann man ihr vertrauen? Da muss man sich Zeit nehmen.“ Yana Baustert stimmt zu: „Zusammenleben kann man nicht mit jedem. Das muss schon eine nette Person sein.“ 

Denn zusammen für den Haushalt einkaufen gehen, gemeinsam essen, ins Kino oder wie letztens auch mal auf die Kirmes gehen – das geht am besten, wenn man sich gut versteht. Obwohl Elissa Mendes am Wochenende nicht gerne alleine zu Hause ist, sagt auch sie, dass man nicht alles zusammen machen muss. Woraufhin Yana Baustert meint: „Manchmal braucht man eben aber auch seine Ruhe.“ Sie mag an ihrer Wohnsituation, dass alle gut miteinander klarkommen. Dennoch ist ihr persönliches Ziel, einmal ganz für sich alleine zu leben. 

Unterstützung vorhanden

In der inklusiven WG allerdings erhalten Mitbewohnerinnen und Mitbewohner Unterstützung von der APEMH – wenn diese gebraucht wird. Rund um die Uhr ist das Team erreichbar und stattet der WG regelmäßig Besuche ab. „Die APEMH ist immer da, wenn wir mal quatschen wollen“, erklärt Bradley Lawson. Montags wird gemeinsam mit der Vereinigung die Woche geplant. „Bei unseren Versammlungen verschaffen wir uns einen Überblick über die kommenden Tage – was organisatorisch ansteht usw. Aber wir halten zum Beispiel auch fest, dass wir Seife kaufen müssen“, erzählt er. 

Die Vereinigung hinter dem Projekt

Die „Association des parents d’enfants mentalement handicapés“ (APEMH) wurde 1967 gegründet und unterstützt Menschen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung sowie deren Familien. So setzt sich die Vereinigung einerseits für die Rechte und Interessen der Betroffenen ein, verwaltet aber auch unterschiedliche Strukturen und bietet verschiedene Dienstleistungen an – unter anderem in den Bereichen Arbeit sowie Ausbildung, Betreuung und Wohnen. So stellt die APEMH landesweit zum Beispiel Zimmer und Wohnungen zur Verfügung, in denen Menschen mit speziellen Bedürfnissen alleine, zu zweit oder in der Gemeinschaft leben können. Zudem gibt es betreute Wohnungen, aber auch solche ohne Präsenz eines Betreuungsteams. Nach der inklusiven WG in Niederkorn soll laut APEMH im kommendem Jahr übrigens in Vianden eine weitere Wohnform dieser Art entstehen. Mehr Informationen gibt es unter apemh.lu.

Außerdem hilft ein Whiteboard in der Küche beim Verschaffen eines Überblicks. Darauf ist unter anderem zu lesen, wann zum Beispiel Elissa bei der Arbeit ist oder Bradley einen Ausflug nach Hamburg macht. Dahin wollen die WGler bald auch gemeinsam hinfahren – um dort den Geburtstag des Mitbewohners zu feiern. Aber auch weniger Erfreuliches wird gemeinsam erledigt, wie die sehr vernünftige Elissa Mendes feststellt: „Niemand putzt gerne, aber man lebt zusammen und dann muss es eben gemacht werden.“ Im Rotationsprinzip wird das Zuhause immer zu zweit gereinigt. Jede Woche ist ein anderes Duo dran.  

Die passende Person zum Wohnen finden, gemeinsam den Haushalt schmeißen, aber auch zusammen eine gute Zeit verbringen – es sind die für WGs so typischen Dinge, die auch im Alltag von Yana Baustert, Elissa Mendes und Bradley Lawson eine Rolle spielen. Und die ganz gewöhnliche WG für die Mitbewohnerinnen und ihren Mitbewohner wohl doch zu etwas ganz Besonderem machen.