USAUmstrittene Diplomatie-Legende: Henry Kissinger feiert am 27. Mai seinen 100. Geburtstag

USA / Umstrittene Diplomatie-Legende: Henry Kissinger feiert am 27. Mai seinen 100. Geburtstag
Henry Kissinger am 1. Dezember vorigen Jahres bei einem Essen des US-Außenministeriums Foto: AFP/Roberto Schmidt

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An Henry Kissinger scheiden sich bis heute die Geister. Für die einen ist der frühere US-Außenminister einer der brillantesten strategischen Köpfe des 20. Jahrhunderts. Die anderen sehen in Kissinger einen zynischen Machttaktiker, der ruchlos US-Interessen durchsetzte und dabei Menschenrechte missachtete. Dass die im deutschen Fürth geborene Diplomatie-Legende, die am Samstag 100 Jahre alt wird, einen riesigen Einfluss auf die internationale Politik hatte, darin sind sich Bewunderer und Kritiker einig.

Kein deutscher Emigrant hat es in der US-Politik derart weit gebracht wie Kissinger. Geboren wurde Heinz Alfred Kissinger am 27. Mai 1923 in Fürth als Sohn einer jüdischen Lehrerfamilie. 1938 flohen die Kissingers vor der nationalsozialistischen Verfolgung in die USA, aus Heinz wurde Henry, 1943 folgte die Einbürgerung in der neuen Heimat. Als US-Soldat kehrte Kissinger während des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland zurück und half unter anderem, NS-Schergen aufzuspüren.

Auf die Zeit bei der US-Armee folgte eine glanzvolle Wissenschaftskarriere an der Universität Harvard. Mit seinen Analysen zu Verteidigungsstrategie und Atomwaffen machte der Politikwissenschaftler auf sich aufmerksam und begann die US-Regierung zu beraten.

Als der Republikaner Richard Nixon 1969 als Präsident ins Weiße Haus einzog, machte er Kissinger zu seinem Nationalen Sicherheitsberater und 1973 zusätzlich zum Außenminister. Kissinger wurde zum Inbegriff des Realpolitikers. Ihn trieben Einflusswahrung und der Ausgleich der weltweiten Machtbalance an. Seine Arbeit brachte ihm viele Bewunderer, aber auch viele erbitterte Gegner ein.

„Auch lange nach dem Ende seiner Amtszeit entzündeten sich an Kissinger kontroverse Meinungen“, urteilt sein Biograf Walter Isaacson. „Hass und Verehrung, Ablehnung und Ehrfurcht, dazwischen liegt nicht allzu viel neutrales Territorium.“

Auch lange nach dem Ende seiner Amtszeit entzündeten sich an Kissinger kontroverse Meinungen. Hass und Verehrung, Ablehnung und Ehrfurcht, dazwischen liegt nicht allzu viel neutrales Territorium.

Walter Isaacson, Kissinger-Biograph

Kissinger trieb eine Entspannung der Beziehungen zum Erzrivalen Sowjetunion voran und war maßgeblich an der Entstehung des Rüstungskontrollvertrags SALT I im Jahr 1972 beteiligt. Er leitete auch eine vorsichtige Annäherung an das kommunistisch regierte China ein. Berühmt ist Kissinger zudem für seine „Shuttle-Diplomatie“ im Nahostkonflikt, in dem er mit einer Vielzahl von Reisen vermittelte.

1973 wurde er zusammen mit dem nordvietnamesischen Chefunterhändler Le Duc Tho für ein Waffenstillstandsabkommen im Vietnamkrieg mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Es ist aber eine der umstrittensten Entscheidungen in der Geschichte des Preises: Tho lehnte die Ehrung ab, weil der Krieg trotz des Abkommens weiterging. Kissinger selbst wollte den Preis später zurückgeben.

Ohnehin steht Kissinger für seine Rolle im Vietnamkrieg in der Kritik, unter anderem mit Blick auf die Bombardierung der Nachbarländer Laos und Kambodscha. Auch außerhalb des Vietnamkrieges ist die Liste der Vorwürfe gegen den einst so mächtigen Diplomaten lang. Kissinger ist für die Mitverantwortung der USA beim Pinochet-Putsch in Chile 1973 scharf kritisiert worden. Er ignorierte von Pakistan während des Bangladesch-Kriegs 1971 begangene Massaker und billigte Indonesiens blutigen Einmarsch in Ost-Timor 1975.

Ford von Kissingers Rechthaberei genervt

„Gelegentlich schien er geradezu schmerzhaft amoralisch“, schreibt Biograf Isaacson. Kritiker bezeichneten Kissinger sogar als Kriegsverbrecher. Später räumte der sonst so selbstbewusste Kissinger ein, niemand könne sagen, er habe in einer Regierung gearbeitet, die keine Fehler gemacht habe.

Solche Töne sind aber eher ungewöhnlich. Schon Nixons Nachfolger Gerald Ford, dem Kissinger bis 1977 ebenfalls als Außenminister diente, nervte dessen Rechthaberei: „Henry ist überzeugt, niemals einen Fehler gemacht zu haben“, sagte Ford.

Als Ford 1976 die Präsidentschaftswahl gegen den Demokraten Jimmy Carter verlor, war es vorbei mit Kissingers Ministerkarriere. Der Stratege mit der markanten knorrigen Bass-Stimme blieb aber in den folgenden Jahrzehnten ein in Washington viel gefragter und einflussreicher Berater – und sein Wort hat bis heute Gewicht. Als Buchautor befasst er sich auch im hohen Alter mit Themen wie Weltpolitik und Diplomatie, aber auch den Herausforderungen der Künstlichen Intelligenz.

Auch zum Ukraine-Krieg äußerte er sich – und sagte kürzlich in einem Interview mit der Zeit, nicht „alle Schuld“ liege beim russischen Präsidenten Wladimir Putin. Er habe schon 2014 „ernste Zweifel an dem Vorhaben geäußert, die Ukraine einzuladen, der NATO beizutreten“, sagte Kissinger. „Damit begann eine Reihe von Ereignissen, die in dem Krieg kulminiert sind.“ Jetzt aber sei es besser für den Westen, „die Ukraine in die NATO aufzunehmen“, fügte die Diplomatie-Legende hinzu. Ein Ratschlag, der insbesondere in Kiew sehr gerne gehört werden dürfte. (AFP)

Phil
31. Mai 2023 - 16.17

@liah Stimmt, da haben Sie Recht. Auslöser war die überraschende Erklärung der ukrainischen Regierung im November 2013, das geplante Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht unterzeichnen zu wollen. Die Demonstranten auf dem Maidan forderten die Amtsenthebung von Präsident Wiktor Janukowytsch, welcher Ende Februar 2014 das Land verließ. Nach der Amtsenthebung von Janukowytsch wurde Oleksandr Turtschynow Übergangspresident bis zur Amtseinsetzung von Petro Poroschenko als Präsident der Ukraine im Juni 2014.

liah1elin2
30. Mai 2023 - 14.48

@phil Um es richtig einzuordnen, 2014 wurde Janukowitsch gestürzt und ist nach Russland geflohen. Und ja, Mr Kissinger ist eine interessante, einflussreiche Person und lässt immer mal seine persönliche Meinung verlauten. Für den Verzicht auf Atomwaffen erhielten Belarus, Kasachstan und die Ukraine 1994 im Budapester Memorandum die Garantie der territoralen Unversehtheit, vor allem garantiert durch Russland und die USA. Jelzin wehrte sich gegen eine Natomitgliedschaft, eine Haltung die er 1997 aufgab. Russland verzichtete auf ein Veto, sollten ehemalige Sowjetrepubliken Natomitglied werden. Quelle SWR2 vom 5.12.1994 und 27.5.1997. Das ist eben auch Bestandteil in dieser unsäglichen Tragödie in der Ukraine und Herr Kissinger weiss dies ohne Zweifel auch.

Phil
29. Mai 2023 - 6.29

Nach lesen von dem Artikel wird man in seiner eigenen Meinung bestätigt, dass die Amerikaner bias CIA an vielen politischen Querelen in aller Welt schuld sind. So auch am Maidan Putsch 2014 gegen Poroschenko. Wie stand in der Washington Post: zu lesen "Kissinger says Ukraine should cede territory to Russia to end war" Worte eines weisen Mannes!