This Hard Minett Land (Teil 1)„Factory“ von Guy Helminger

This Hard Minett Land (Teil 1) / „Factory“ von Guy Helminger
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Von März bis Oktober 2022 laden das Tageblatt, das Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History (C2DH) und capybarabooks die LeserInnen jeden Freitag zu einer besonderen Entdeckungsreise durch Luxemburgs Süden ein. Rund vierzig SchriftstellerInnen und HistorikerInnen lassen sich von Bruce Springsteens Songs inspirieren und schreiben Texte über das luxemburgisch-lothringische Eisenerzbecken, „de Minett“, sowie über diejenigen, die dort geboren oder dorthin eingewandert sind, dort gelebt, gearbeitet, geliebt, geträumt, gehofft, gekämpft, Erfolg gehabt oder versagt haben. Begleitet werden die Texte in deutscher, englischer, französischer und luxemburgischer Sprache von Illustrationen des Luxemburger Künstlers Dan Altmann. Im Herbst erscheinen sämtliche Texte und Zeichnungen dann versammelt in Buchform bei capybarabooks. Bis dahin heißt es: „Son, take a good look around/this is your … Minett Land!“

Ich habe meinen Vater nie durch dieses Tor gehen sehen, das so viele in drei Schichten verschluckte. Bis ich zehn war, hatte ich noch nicht einmal eine Vorstellung davon, was er arbeitete. Ich glaube, nicht einmal Mutter hätte genau erklären können, was ein Elektriker für die ARBED so macht. Die Dinge, die dort auf dem Gelände passierten, blieben abwesend, kamen manchmal als schwarzer Staub, der sich auf das Fensterbrett legte, in unsere Nähe, ohne zu viel preiszugeben. Später, als ich bereits studierte, sagte Vater zu mir: „Was hätte ich denn erzählen sollen? Von Elektrizität verstand Mutter nichts. Ich hätte sie gelangweilt. Und die Unfälle anderer, die ich miterlebt habe, hätte sie nicht ertragen. Sie war immer schreckhaft.“

Als ich im ersten Schuljahr war, hörte ich Vater zum ersten Mal jenen Satz sagen, der mich fortan wie ein wiederkehrendes Besprechungsritual begleiten sollte. Ich saß über meinen Hausaufgaben, malte mehr, als dass ich schrieb, eine Reihe mit dem gleichen Buchstaben, als Vater von der Frühschicht heimkehrte. Er besah sich meine Anstrengung und sagte: „Zieh nie den Blaumann an, sonst hast du Scheiße am Schuh.“ (Do ni e bloe Kostüm un, soss ass et geschass.) Ich schaute ihn an und verstand den Zusammenhang nicht, wartete auf eine Erklärung. Aber Vater erklärte nichts, zumindest nichts Politisches, nichts Gesellschaftliches. Er hatte Meinungen und die standen fest und nicht verrückbar in der Wohnung. Als Kind sah ich sie nicht, selbst wenn er sie äußerte. Später rieb ich mich an ihnen, wurde zuweilen wütend über die Undifferenziertheit, mit der sie ihre Position behaupteten. Viele dieser Meinungen traten gebetsmühlenartig in Erscheinung, viele davon lernte ich mit der Zeit zu ignorieren, aber der Satz mit dem Blaumann traf mich so oft und so regelmäßig, dass ich in der Pubertät schon versteifte, wenn ich Vater nach Hause kommen hörte und am Küchentisch über meinen Hausaufgaben saß. Ich wusste, jetzt kommt der Satz gleich wieder. Meine Konzentration auf den Lernstoff setzte aus und ich wartete darauf, dass Vater vom Flur in die Küche treten würde, um den Satz auszusprechen. Währenddessen gärte in mir eine ohnmächtige Wut, die ich damals nicht hinterfragte, von der ich heute annehme, dass sie einerseits der Pubertät geschuldet war, andererseits der zermürbenden Wiederholung. Erst nachdem Vater seinen Blaumann-Satz ausgesprochen hatte, löste sich die Spannung in mir und ich konnte weiterlernen, während Mutter ihm das Mittagessen vorsetzte. Zugleich begriff ich in dieser Zeit, was es bedeutete, jeden Tag Frühschicht zu haben. Wir hatten den Jugend-Interessenverein (JIV) gegründet, organisierten öffentliche Diskos im alten Ariston-Kino. Die Haare wurden länger und ich begegnete meinem Vater mehr als einmal, wenn ich nachts gegen vier nach Hause getorkelt kam und er gerade aufgestanden war, um zur Arbeit zu gehen.

„Na, Spätschicht gehabt?“, fragte er jedes Mal, ohne eine Miene zu verziehen oder zu lächeln. Er machte mir keine Vorwürfe, ermahnte mich nicht, zeigte keine Emotion. Ich kroch ins Bett, er frühstückte und verschwand in der Dunkelheit, die auf seinem Weg zum Tor lag. Dafür hörte ich am anderen Tag: „Do ni e bloe Kostüm un, soss ass et geschass.“ Einmal habe ich geantwortet: „Den Satz habe ich ja noch nie gehört.“ Das störte ihn aber nicht. Jedenfalls vernahm ich den Spruch danach nicht weniger oft aus seinem Mund.

Nicht nur bei unseren nächtlichen Begegnungen zeigte er keine Emotionen. Gefühle schienen immer fehl am Platz zu sein. Man hatte sie, aber man zeigte sie nicht. Ich saß als Kind oft auf seinem Schoß und wir sahen uns seine Briefmarken an, während ich darauf achtete, nicht zu viel zu atmen, damit die Alben nicht feucht wurden. Oder er brachte mir Schach bei. Er nahm mich mit zum Fußball, zu Jeunesse Esch, aber wenn dort jemand schrie, den Schiedsrichter beleidigte oder wegen eines Tores herumhüpfte, schüttelte er den Kopf und sagte zu mir: „Was für ein Idiot.“ Es war, als ob Gefühlsäußerungen einen miesen Charakter offenbarten, zumindest Schwäche, eines Arbeiters nicht würdig. Oder die Dinge verkomplizierten, sie eskalieren ließen. Vielleicht hatte er Angst vor Gefühlen, Angst, seinen vermeintlich klaren Kopf zu verlieren, Dinge zu tun, die sein Selbstbild durchlöchert hätten, Dinge, die andere den Kopf hätten über ihn schütteln lassen. Er wollte nicht anecken. Wenn man so tat wie alle, fiel man nicht auf. Das schien eine Grundregel des Lebens zu sein. Das bedeutete eben auch, seine Emotionen im Griff zu haben, während es innen brodelte und man das Tor durchschritt.

Ich empfand meine Kindheit als schön. Vaters nach außen hin emotionale Reglosigkeit fiel mir erst viel später auf. Ich sah ihm an, dass er sich freute, wenn ich nach Monaten von der Uni nach Hause kam. Etwas war in seinen Augen. Aber er hätte mich nie umarmt oder gesagt: „Schön, dass du da bist.“ Das hatte ich ohne solche Äußerungen zu begreifen. Und ich begriff es. Genauso wie ich es, seit ich auf der Welt war, gewusst hatte, ohne dass es Gesten oder Worte dafür gegeben hätte. Von anderen Vätern in der Straße wurde erzählt, dass sie ihre Kinder schlugen, sie einsperrten. Mich hat Vater bis auf ein einziges Mal nie angerührt. Damals hatte ich als Sechsjähriger meine Mutter eine „dusselige Kuh“ genannt und Vater hatte mich übers Knie gelegt. Das hatte Wirkung gezeigt und ich war augenblicklich in seine Fußstapfen getreten, hatte Schimpfwörter im Kopf gehabt, sie aber nie mehr geäußert. Die Emotionen blieben drinnen. Ich weiß nicht, ob Vater mit dem Blaumann-Satz Erfolg bei mir hatte. Womöglich wäre ich auch ohne diesen Ritus niemals durchs Tor gegangen, das er täglich durchschritt. Wo er jedenfalls keinen Erfolg hatte, ist bei meinem Fußballverhalten. Ich gehöre, wenn ich jeden zweiten Samstag auf der Tribüne beim 1. FC Köln sitze, eindeutig zu jenen, die ihre Wut hinausschreien und sich wie kleine Kinder freuen, wenn der Ball die Linie passiert und ins richtige Tor rollt.

Zur Person:

Guy Helminger wurde 1963 im luxemburgischen Esch/Alzette geboren und lebt seit 1985 in Köln. Er schreibt Gedichte, Romane, Hörspiele, Theater. Für seine Arbeit erhielt er u. a. den Förderpreis für Jugend-Theater des Landes Baden-Württemberg, den Prix Servais, den 3sat-Preis, den Prix du mérite culturel de la ville d’Esch, den Dresdner Lyrikpreis und den Gustav-Regler-Preis. Zuletzt erschienen: Venezuela. Drei Stücke; Rost. Stories; Die Allee der Zähne. Aufzeichnungen und Fotos aus Iran; Die Tagebücher der Tannen. Gedichte; Jockey. Theater; Die Lehmbauten des Lichts. Aufzeichnungen und Fotos aus dem Jemen; Neubrasilien. Roman; Die Lombardi-Affäre. Roman; Lärm. Roman; Madame Köpenick. Theater.

Factory

Early in the morning factory whistle blows
Man rises from bed and puts on his clothes
Man takes his lunch, walks out in the morning light
It’s the working, the working, just the working life

Through the mansions of fear, through the mansions of pain
I see my daddy walking through them factory gates in the rain
Factory takes his hearing, factory gives him life
The working, the working, just the working life

End of the day, factory whistle cries
Men walk through these gates with death in their eyes
And you just better believe, boy
Somebody’s gonna get hurt tonight
It’s the working, the working, just the working life‘
Cause it’s the working, the working, just the working life

Bruce Springsteen
(from the album Darkness on the Edge of Town, 1978)
Ó Sony Music Publishing