Musik„This fame thing, I don’t get it“: R.E.M.s „New Adventures in Hi-Fi“ wird 25

Musik / „This fame thing, I don’t get it“: R.E.M.s „New Adventures in Hi-Fi“ wird 25
Gitarrist Peter Buck, Schlagzeuger Bill Berry, Bassist Mike Mills und Sänger Michael Stipe: „New Adventures in Hi-Fi“ sollte das letzte Album der Band als Quartett sein   Foto: Chris Bilheimer

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R.E.M.s letzte Platte mit Schlagzeuger Bill Berry feiert ihren 25. Geburtstag. Das beklemmende, stilistisch zerfahrene Album gilt als die letzte Großtat der Band – nach dem grungigen „Monster“ verdichtet R.E.M. hier die Schattenseite des Tourlebens.

Man liest es in allen Artikeln der Fachpresse: Mit „New Adventures in Hi-Fi“ feiert das letzte große R.E.M.-Album seinen 25. Geburtstag. Das ist etwas plakativ und vereinfachend. Denn Tatsache ist vor allem, dass es die Band, die diese, wie auch alle neun vorherigen Platten, schrieb und tourte, danach nicht mehr geben wird: Auf der Tour zu „Monster“ (1994) brach Schlagzeuger Bill Berry wegen einer einem geplatzten Aneurysma geschuldeten Hirnblutung auf der Bühne zusammen und verließ nach den Aufnahmen zum zehnten Album die Band.

Micheal Stipe erklärte den zukünftigen Werdegang von R.E.M. mit seiner üblichen Spitzfindigkeit: „A three-legged dog is still a dog. It just has to learn how to run differently“ – und beantworte damit eine der zentralen Fragen von Saul Kripkes modallogischem Klassiker „Naming and Necessity“ auf eine sehr pragmatische Art(*). Die Platten ohne Bill Berry sind nicht so schlecht wie ihr Ruf und zeugen, zumal was „Up“ (1998) und „Reveal“ (2001) anbelangt, von einer mutigen Art, das Auf-drei-Beinen-Laufen zu erlernen.

Mitte der 90er ist dies jedoch noch Zukunftsmusik. Im Jahr 1995 sind R.E.M. riesig. Die kleine Indie-Band aus Georgia, deren langsamer Weg zur Stadionband in einer Zeit von blitzschnellen Auf- und Abstiegen kaum mehr vorstellbar ist, veröffentlichte in den 80ern die spannendsten Indie-Rock-Alben überhaupt: Ihre Platten waren tanzbar, schief, griffig, poetisch, wütend, politisch, elegant – und wurden getragen von einer der tollsten Stimmen des Indie-Rock und einem der charismatischsten Frontmänner überhaupt.

Mit „Document“ (1987), auf dem das in der Pandemie viel herbeizitierte „It’s the End of the World as We Know It (and I Feel Fine)“ fungiert und „Green“ (1988), mit dem politischen, an Leonard Cohen erinnernden „World Leader Pretend“, kündigt sich langsam, aber sicher der Welterfolg an: 1996 unterzeichnen R.E.M. mit Warner den damals gewinnbringendsten Plattenvertrag ever, im Gegensatz zu artverwandten Bands wie U2 oder The Smiths sollten sie weder ihre Seele verkaufen noch auseinanderbrechen.

On the road

Mit „Out of Time“ (1991) und „Automatic for the People“ (1992) wird die Band unsterblich: Beide Platten gelten als Klassiker, wer heute genauer hinguckt, stellt fest, wie stilistisch zerfahren ein Album wie „Out of Time“ war, auf dem neben dem Klassiker „Losing My Religion“ fröhlich-seichter Pop („Shiny Happy People“), Rap-Einlagen („Radio Song“), dunkele Kleinoden („Low“) und melancholische Großtaten („Country Feedback“, Micheal Stipes Lieblings-R.E.M.-Song) nebeneinanderstehen.

„Automatic for the People“ ist nur eine Spur homogener, einzig das darauffolgende und lange Zeit missverstandene „Monster“ klingt wie aus einem Guss: Hier huldigt die Band dem Grunge und dem Glamrock; mehr Ballsout sollte es danach nie wieder geben. Wer aber hinter die gesättigten Gitarren sieht, merkt, wie einfühlsam diese Songs über die Oberflächlichkeit des Berühmtseins, den Tod und, ja, Genderklischees, sind. Am schönsten ist „Let Me In“, die Hommage an Kurt Cobain, der vor seinem Selbstmord „Automatic for the People“ gehört haben soll und den R.E.M. bis zum Ende ihrer Karriere immer wieder live spielten.

Während der nervenaufreibenden, gesundheitsstrapazierenden Tour zu „Monster“ folgten R.E.M. der Idee der befreundeten Radiohead und nutzten die zahlreichen Soundchecks, um nicht etwa die bereits in Fleisch und Blut übergegangenen Tracks der Setlist zu spielen, sondern neues Material auszuprobieren. „New Adventures in Hi-Fi“ ist, wie es das schöne Cover bereits andeutet, eine Platte, die unterwegs entstand, und die die Bewegung, die amerikanische Ödnis, die Aufregung, aber auch die Monotonie des Tourlebens einfängt. Sie ist, wie bereits „Out of Time“, eine Platte wechselnder Stimmungen und Stile. Anders als „Out of Time“ hält eine Atmosphäre, ein Thema sie zusammen.

Es gibt darauf einige Tracks, die ähnlich rockig und breitbeinig, dafür aber karger, weniger Mascara-beladen wie die auf „Monster“ daherkommen und die in etwa so klingen, als hätte man sie live aufgenommen und danach im Studio nur leicht poliert und geschliffen – „So Fast, So Numb“ hat die dunklen, gesättigten Gitarren der Vorgängerplatte, lässt im Chorus aber mit der Orgel und einem verspieltes Blues-Klavier etwas Licht in den Song, während Stipe hier die optimistischsten, affirmativsten Zeilen einer an und für sich dunklen Platte singt: „This is here/This is me/This is what I wanted you to see“.

Dark, gloomy people

Interessanter als die (überaus tollen) „Wake-Up Bomb“ oder „Departure“, die beiden rockigsten Nummern der Platte, sind allerdings die Tracks, die schildern, was abseits der Bühne stattfindet: War „Monster“ eine große Parabel auf die schillernde Leere des Rockstarlebens, erzählt „New Adventures in Hi-Fi“ von seiner melancholischen Kehrseite. Das Album schildert die Ups und Downs dazwischen, die Leerstunden, das Warten, das Reisen, die Fahrt mit dem Tourbus, in dem sogar einige der Tracks entstanden sind: Das spärliche „Be Mine“, das mit einer leicht verzerrten Gitarre und einer Orgel Stipes Gesang in den Vordergrund stellt, entstand in einem Tourbus mitten in der Nacht – und klingt auch genauso.

Stipes Lyrics thematisieren Bewegung, Nomadismus, aber auch den Orientierungsverlust, die Identitätssuche, die Flucht nach vorne, weil man nicht weiter weiß – im wunderschönen „Bittersweet Me“ singt er „I’m tired and naked/I don’t know what I’m hungry for“, während das Verb „move“ (in diesem wie in vielen anderen Songs) zum Leitmotiv wird: Diese Platte bewegt in allen Sinnen des Wortes.

„E-Bow The Letter“ führt R.E.M.s Tradition fort, unkonventionelle Songs ohne wirklichen Refrain als Lead-Single zu veröffentlichen – man erinnere sich, dass auch „Losing My Religion“ über keinen Chorus verfügt. Der Songtitel ist nach einem Gitarreneffekt benannt, der den erhitzten Gitarrensaiten ein verzerrt-warmes Jaulen entlockt. Über eine aus E-Bow und Akustikgitarren hinaufbeschworene Atmosphäre legt sich Stipes einsamer, von Patti Smiths Bassstimme begleiteter Sprechgesang.

Die Lyrics sind dabei so toll, dass man Bob Dylan den Literaturnobelpreis eigentlich sofort wieder wegnehmen müsste, um ihn Stipe zu verleihen, der bildstark über Sachen singt, deren Verständnis sich nicht sofort erschließen lässt: „This fame thing/I don’t get it/I wrap my hands in plastic to try to look through it/Maybelline eyes and girl-as-boy moves“. Dass dieser Song – einer der schönsten und mutigsten, die R.E.M. je schrieb – ein kommerzieller Erfolg werden sollte, schien unwahrscheinlich, trotzdem brachte er der Band ihre (zu dem Zeitpunkt) höchste Chart-Platzierung in UK ein.

„The story is a sad one, told many times“

Das Herzstück der Platte ist „Leave“, dessen ohrenbetäubende Sirene eigentlich jeden anderen Song versaut hätte, hier aber nicht nur irgendwie passt, sondern mit der absoluten Schönheit von Gitarre und, vor allem, Stipes Gesang harmoniert. Die Sehnsucht, die Melancholie, das Festhalten an einer Welt, die eigentlich der Verdammnis geweiht ist: Einfühlsamer hat Stipe wohl nie gesungen. Wem Gitarren und Sirene dennoch auf den Geist gehen sollten: Unter den dieser Neuauflage beigelegten Bonustracks befindet sich eine alternative, einem Filmsoundtrack entnommene Aufnahme, die das elektronische, ruhigere, Trip-Hop-Pendant des Originals ist.

Opener „How the West Was Won and Where It Got Us“ klingt wie minimalistischer New-Orleans-Jazz und groovt traurig in die Leere, während Stipes Sprechgesang über eine Figur singt, die stets zur falschen Zeit am falschen Ort ist: „The story is a sad one/Told many times/The story of my life in trying times“. Auch 25 Jahre später ist die punktgenaue Melancholie dieses Tracks ergreifend, ohne dass hier die geringste Note Pathos durchscheint.

Am anderen Ende der Platte steht das optimistische Gegenstück: Auf „Electrolite“ ist das Klavier genauso zentral wie beim Opener, anstatt einsamer Klavier-Staccati gibt es hier ein verspieltes Honkey-Tonk-Klavier und ein Banjo, während Stipes Lyrics mithilfe von abstrakten Wortklecksen eine Atmosphäre erzeugen, die dem Zuhörer das Gefühl vermittelt, das Ende einer Reise erreicht zu haben (die Platte endet mit den Worten: „I’m not scared/I’m out of here“) – damit mag das Ende der Tour, aber auch das Ende einer Band, die es in dieser Konstellation nicht mehr geben wird, gemeint sein.

Wer dieses Ende noch etwas hinauszögern will, kann sich das hauptsächlich aus Live- und Coverversionen (darunter eine ergreifende Version von Vic Chesnutts „Sponge“) bestehende Bonusmaterial anhören – wie so oft handelt es sich hierbei um hörenswerte, wenn auch nicht unabdingbare Ergänzungen zur Platte.
Ganz gleich, wie man das Spätwerk beurteilt: Mit „New Adventures in Hi-Fi“ schrieben R.E.M. nicht nur das letzte Album mit Schlagzeuger Bill Berry, sondern auch eine akribische, melancholische Dokumentation des Tour-Lebens, die fast so nebenbei ein ganzes Land, eine ganze Gesellschaft schonungslos und sanft, aber ohne jedes Pathos, kartografiert.

(*) Im Essai stellt Kripke die Frage, ob ein Tiger, den man mithilfe der Beschreibung „vierbeinige Großkatze“ beschreiben und bezeichnen kann, immer noch mit dem Wort Tiger bezeichnet werden kann, wenn er nur noch drei Beine hat.