DeutschlandSPD, Grüne und Liberale einigen sich auf einen Koalitionsvertrag

Deutschland / SPD, Grüne und Liberale einigen sich auf einen Koalitionsvertrag
(v.l.) Christian Lindner (FDP), Olaf Scholz (SPD) und die Grünen Annalena Baerbock und Robert Habeck haben sich geeinigt Foto: AFP/Tobias Schwarz

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Olaf Scholz hat es geschafft. Der Koalitionsvertrag ist fertig. Das Dreierbündnis gönnt sich ein Ministerium mehr. Robert Habeck wird Deutschlands neuer Vizekönig, Christian Lindner Schatzkanzler. Sektkorken knallen bei der Ampel-Gala in einem Berliner Hafen keine. Die tödliche Corona-Welle überschattet den Start der Regierung.

Der kommende Kanzler bringt seinen großen Erfolg hanseatisch trocken auf den Punkt. Scholzig knapp eben: „Die Ampel steht.“ Drei-Wort-Sätze waren mal die Spezialität von Franz Müntefering. Olaf Scholz mag es ähnlich pragmatisch. „Mein Anspruch als Bundeskanzler ist es, dass dieses Ampelbündnis eine ähnlich wegweisende Rolle für Deutschland spielen kann“, sagt Scholz am Mittwoch bei der Präsentation des Koalitionsvertrages in einer früheren Lagerhalle im Berliner Westhafen. Am 7. oder 8. Dezember will er sich im Bundestag zur Kanzlerwahl stellen – habemus cancellarius.

Christian Lindner, der künftige Finanzminister und Vize-Vizekanzler, schmeichelt dem Merkel-Nachfolger. „Wir haben Olaf Scholz neu kennengelernt.“ Der FDP-Chef schafft es galant, mit einem abgewandelten Zitat von Egon Bahr, dem einstigen SPD-Architekten von Brandts Ostpolitik, Scholz jene innere Haltung und Größe zu attestieren, die diesen zu einem starken Bundeskanzler befähigen werde. Vor wenigen Monaten wären Scholz und Lindner bei so einem Satz noch schweißgebadet aus dem Schlaf geschreckt.

Die am 28. Oktober gestarteten Ampel-Gespräche (alles fing mit einem grün-gelben Selfie an) seien „genauso kontrovers wie diskret“ gewesen, verrät Lindner. SPD und Grüne hätten stark verhandelt und könnten stolz sein. Lindner baut damit den Grünen eine Brücke, deren Anhängerschaft in der am Donnerstag startenden digitalen Mitgliederbefragung den Koalitionsvertrag und das Klimakapitel mit der Lupe nach Versäumnissen durchsuchen wird.

Lindner kennt die Traumata aus Koalitionsverhandlungen zur Genüge. 2009 zerstörte sich die Westerwelle-FDP selbst, weil sie auf das Finanzministerium verzichtete. 2017 ließ Lindner Jamaika platzen, weil Merkels Union ihn nicht für voll nahm. Jetzt hat er sehr viel herausgeholt. Mit ihm als Finanzminister will die FDP „Anwalt solider Finanzen“ sein. Daneben bekommen die Liberalen Verkehr (das soll Volker Wissing übernehmen), Justiz mit dem Lindner-Vertrauten Marco Buschmann sowie die Verantwortung für Bildung, wo Bettina Stark-Watzinger vorgesehen ist. „Demut ist ratsam angesichts der Herausforderungen“, sagt Lindner. Die nächste Regierung werde auch die Union brauchen, um das Land zu verändern. Ein versöhnlicher Gruß, eine schwarz-gelbe Reminiszenz? Eher strategisches Kalkül. Stellen sich CDU und CSU im Bundesrat quer, wird es für die Ampel richtig hart.

Erste Frau im Auswärtigen Amt

Dann darf Deutschlands neuer Vizekönig ran. Mit Robert Habecks Sprache zieht ein neuer Sound ins Regierungsviertel ein. Der promovierte Philosoph, Schriftsteller, Ex-Umweltminister schultert eine Aufgabe, deren Fallhöhe gewaltig ist. Superminister für Wirtschaft und Klima. Seiner Partei verspricht er, die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt auf den1,5-Grad-Ziel-Pfad zu bringen, „idealerweise“ bis 2030 aus der Braunkohle auszusteigen und die Energiewende zum Erfolg zu führen – ohne massive Kostennachteile für Millionen Pendler und Verbraucher. Die Vereinbarkeit von Wohlstand und Klimaschutz ziehe sich wie ein roter Faden durch den Koalitionsvertrag, behauptet er. Auf der Bühne duzt er alle. „Es war manchmal ganz schön anstrengend, wir haben uns ganz schön viel zugemutet.“ Nun werde die Ampel auch vielen Menschen etwas zumuten. Die Spitzenpolitiker hätten viel voneinander gelernt. Das sei vorbildhaft. Die Ampel wolle „ein lernendes Deutschland – das ist das Versprechen, das wir uns geben“.

Es war manchmal ganz schön anstrengend, wir haben uns ganz schön viel zugemutet

Robert Habeck, bald grüner Vize-Kanzler

Für die entgangene Kanzlerkandidatur soll Habeck mit dem Vizekanzler-Titel entschädigt werden. Da das Grundgesetz nur einen Stellvertreter vorsieht, darf Lindner einspringen, wenn Scholz und Habeck zum Beispiel gleichzeitig Urlaub machen. Die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock wird als erste Frau Außenministerin. Im Westhafen verpasst sie eine erste Gelegenheit, die neugierigen westlichen Verbündeten für sich einzunehmen. Die Grünen erhalten außerdem die Ressorts Familie (Katrin Göring-Eckardt gilt als Favoritin), Landwirtschaft (Anton Hofreiter?) und Umwelt (Steffi Lemke).

Außergewöhnliche Zeiten

Wie sieht das um ein Haus (Bauen) erweiterte Kabinett Scholz ansonsten aus? Die SPD erhält Verteidigung, Gesundheit, Bauen, Entwicklung, Innen und Arbeit. Arbeitsminister soll Hubertus Heil bleiben, Innenministerin die bisherige Justizministerin Christine Lambrecht. Als Kanzleramtschef wird Wolfgang Schmidt erwartet. Bauministerin könnte Svenja Schulze werden – oder sie übernimmt das Gesundheitsministerium, das wegen Corona wie eine schmutzige Atombombe auf dem Ampeltisch herumlag. Und Verteidigung? Zieht die Wehrbeauftragte Eva Högl einfach um in den Bendlerblock? Scholz will die SPD-Karten erst rund um den Parteitag am 4. Dezember aufdecken.

Knallen bei den drei Parteien jetzt die Sektkorken? Die Grünen mussten 16 Jahre auf eine Regierungsbeteiligung im Bund warten, die FDP immerhin acht. Der Start der Koalition, die ihren Vertrag mit „Mehr Fortschritt wagen“ betitelt, findet in außergewöhnlichen Zeiten statt. Katastrophenmanagement statt Aufbruch heißt es für Scholz & Co. in der vierten Corona-Welle. 100.000 Menschen sind seit Ausbruch der Pandemie gestorben.

Scholz wirkt entschlossen, kündigte Krisenstäbe und Milliardenboni für Pflegerinnen an. Aber doch haftet dieser Koalition in der größten Gesundheitskrise der Nachkriegszeit vom Start weg der Makel des Zögerlichen an. War es nicht eine krasse Fehleinschätzung, vor allem auf Druck der FDP die epidemische Notlage auslaufen zu lassen? Aus den Ländern, auch von SPD-Ministerpräsidenten, wächst der Druck gewaltig, werden Rufe nach einer allgemeinen Impfpflicht immer lauter. Scholz hat große Herausforderungen nie gescheut. Bald muss er zeigen, ob er Angela Merkels Fußspuren ausfüllen kann. Sie war 16 Jahre da (und verpasst Kohls Rekord um wenige Tage). Scholz will nicht nur vier, sondern acht Jahre bleiben.


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