Entwicklungspsychologin nennt LösungsansätzeSo kann die Mehrsprachigkeit besser gelingen

Entwicklungspsychologin nennt Lösungsansätze / So kann die Mehrsprachigkeit besser gelingen
Entwicklungspsychologin Dr. Pascale Engel de Abreu zeigt ein Maskottchen, das bei den Interventionsprojekten zur besseren Sprachentwicklung bei Kindern eingesetzt wurde Foto: Editpress/Julien Garroy

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

In den „Coronaferien“ gehen die Ungleichheiten zwischen den Schülern noch weiter auseinander. Die Mehrsprachigkeit in Luxemburg kann für viele Schüler nicht nur in der Corona-Krise zum Albtraum werden. Das belegen Statistiken. Entwicklungspsychologin Dr. Pascale Engel de Abreu erklärt, wieso das so ist, und nennt Lösungsvorschläge.

Kinder mit Migrationshintergrund lernen in Luxemburg bis zum Alter von sieben Jahren insgesamt mindestens vier Sprachen: ihre Muttersprache und die drei Landessprachen. Und luxemburgische Muttersprachler müssen immerhin noch zwei zusätzliche Sprachen in der Schule lernen. Laut Pascale Engel de Abreu, Kognitionsforscherin im Institute for Research on Multilingualism an der Uni.lu, ist das für viele Kinder schon früh eine Herausforderung. „Das muss mal gesagt werden.“

Engel unterscheidet strikt zwischen dem schulischen Kontext und jenem zu Hause. Was daheim scheinbar einfach gelingen kann, muss nicht auch für den schulischen Kontext gelten. Oft werde der Fehler gemacht, dass Erkenntnisse aus der Forschung mit Kindern, die zu Hause mehrsprachig aufwachsen, auf Kinder übertragen werden, die in der Schule eine neue Sprache lernen, so die Wissenschaftlerin.

Unser Gehirn funktioniert nicht wie eine Harddisk, die irgendwann mit einer Sprache voll ist. Sprachen konkurrieren nicht um mentalen Platz, sondern das Gehirn organisiert sich ganz natürlich auch mit mehreren Sprachen.

Pascale Engel de Abreu

Manche Eltern haben Angst, ihre Kinder mehrsprachig zu erziehen, sagt Engel. Sie glauben, sie könnten die Kinder überfordern. „Aber das ist nicht der Fall.“ Dies gelte sicherlich für den Kontext „zu Hause“. Mehrsprachige Familien sollten der Wissenschaftlerin zufolge alle ihre Sprachen zu Hause reden. Und den Kindern regelmäßig Geschichten vorlesen, in den verschiedenen Muttersprachen. Das überfordere die Kinder keineswegs und mache sie auch nicht „durcheinander“. „Unser Gehirn funktioniert nicht wie eine Harddisk, die irgendwann mit einer Sprache voll ist. Sprachen konkurrieren nicht um mentalen Platz, sondern das Gehirn organisiert sich ganz natürlich auch mit mehreren Sprachen.“

Der Aussage, dass das Gehirn der Kinder wie ein Schwamm sei, stimmt sie allerdings nicht ganz zu. Ein Schwamm sei passiv. „Wenn man Wasser darauf schüttet, dann saugt er sich voll.“ Das Erlernen von Sprachen erfolge jedoch keineswegs auf passive Weise. Es erfordere eine Notwendigkeit und die Motivation des Kindes. Und das sei im schulischen Kontext weniger stark ausgeprägt und setze eine kognitive Anstrengung voraus.

Sie nennt ein Beispiel: Wenn der Vater Portugiesisch spricht und die Mutter Französisch, entstehe die Notwendigkeit, die jeweilige Sprache mit dem jeweiligen Elternteil zu sprechen, damit dieser das Kind verstehe. Dies passiere ganz natürlich. Und die Kinder sind den Sprachen zu Hause viel mehr exponiert als jenen in der Schule. Im „Précoce“ oder in der „Spillschoul“ komme dann noch Luxemburgisch dazu. Das sei in der Regel kein Problem, da es die natürliche Verständigungssprache zwischen Schülern und Lehrern sowie oftmals bei den Kindern untereinander sei.

Noch nie Deutsch gehört

Im ersten Schuljahr werde dann auf Deutsch alphabetisiert. Eine Sprache, die viele Kinder mit Migrationshintergrund noch nie gehört haben. Einerseits sei die Zeit, in der die Kinder dieser neuen Sprache ausgesetzt seien, limitiert. Eine Fremdsprache in der Schule zu lernen, ist durchaus möglich, setze aber eine relativ hohe kognitive Anstrengung voraus. Dies gelte insbesondere, wenn die Sprache nicht viel Gemeinsamkeiten mit der Muttersprache habe. „Es ist nicht so, dass Kinder mit Migrationshintergrund nicht das Potenzial dazu hätten, aber es ist für viele eine Herausforderung.“

Die EpStan-Resultate von 2018 zeigen, dass 70 Prozent der Schüler mit Portugiesisch als Muttersprache im dritten Schuljahr nicht den erwünschten ‚Niveau-Sockel’ im deutschen Leseverständnis erreichen

Pascale Engel de Abreu

Engel nennt das englische Sprichwort „Sink or swim“. Kinder mit Migrationshintergrund werden in unser mehrsprachiges Schulsystem hineingeworfen und müssen die Fremdsprachen lernen. Was PISA bereits bei 15-jährigen Schülern festgestellt hat, haben die EpStan („Epreuves standardisées“) für andere Altersklassen bestätigt. „Ich finde die Resultate im Bereich Leseverständnis sehr erschreckend“, so die Forscherin. In der öffentlichen Debatte werde nicht genug darüber gesprochen.

„Die EpStan-Resultate von 2018 zeigen, dass 70 Prozent der Schüler mit Portugiesisch als Muttersprache im dritten Schuljahr nicht den erwünschten ‚Niveau-Sockel’ im deutschen Leseverständnis erreichen.“ Der „Niveau-Sockel“ ist das, was Schüler mindestens in der jeweiligen Stufe erreichen sollten. Das sei noch lange nicht „niveau avancé“. Betrachte man alle Kinder, also unabhängig vom Sprachhintergrund, dann erreichen über die Jahre 2010 bis 2018 zwischen 40 und 51 Prozent der Kinder im dritten Schuljahr nicht das erwünschte Niveau im deutschen Leseverständnis. „Das ist fast die Hälfte aller Kinder“, bemerkt Engel. Das seien erschreckend hohe Zahlen, besonders in einem Land wie Luxemburg, das über viele Mittel für sein Bildungssystem verfüge.

Wir haben ein relativ stark stratifiziertes Bildungssystem, das nicht gerecht ist. Es landen definitiv mehr Kinder im ‚Modulaire’, die zu Hause Portugiesisch sprechen, als solche, deren Muttersprache Luxemburgisch ist.

Pascale Engel de Abreu

Das zeige auch, dass Lesenlernen auf Deutsch auch für luxemburgische Muttersprachler trotz vieler Ähnlichkeiten Schwierigkeiten bereiten kann. „Wir haben ein relativ stark stratifiziertes Bildungssystem, das nicht gerecht ist. Es landen definitiv mehr Kinder im ‚Modulaire’, die zu Hause Portugiesisch sprechen, als solche, deren Muttersprache Luxemburgisch ist. Woher kommt das? Wenn wir sehen, dass wir bereits im dritten Schuljahr ein Profil haben, bei dem um die 70 Prozent Portugiesisch sprechender Kinder nicht gut Deutsch lesen, dann ist es nicht erstaunlich, dass das im folgenden Schulverlauf so weitergeht und diesen Kindern dann relativ früh der Zugang zu einer höheren akademischen Ausbildung verbaut ist.“ Das sei nicht richtig und stelle einen enormen Verlust dar. „Wir müssen diese Kinder früher auffangen und sie gezielt dabei unterstützen, damit sie ihr volles Potenzial entfalten können“, so Engel.

Zwei Lösungsversuche

Auch bringen Leseschwierigkeiten häufig weitere Probleme mit sich, beispielsweise emotionale Störungen oder Verhaltensauffälligkeiten. Das erfordere dann zu einem späteren Zeitpunkt einen großen Aufwand an Ressourcen, um dies in den Griff zu kriegen. Deshalb sei es besser, das Problem, bevor es entsteht, an der Wurzel zu packen, sagt Engel: „Mieux vaut prévenir que guérir.“ Zu den Lösungsvorschlägen gehöre einerseits die Stärkung der Schulsprache Luxemburgisch und andererseits jene der Muttersprache.

Die Wissenschaftlerin nennt zwei Interventionsprojekte als Lösungsversuche, die sie geleitet hat und die vom „Fonds national de la Recherche“ (FNR) unterstützt wurden. Beide Projekte wurden im Zyklus 1 mit über 300 Kindern in Luxemburg durchgeführt und haben sich positiv auf die Sprachentwicklung der Schüler ausgewirkt. Beim ersteren, dem sogenannten Lala-Projekt, wurde über die Dauer von insgesamt 12 Wochen gezielt die luxemburgische Sprache gefördert, insbesondere mit Berücksichtigung der speziellen Bedürfnisse von Kindern, die Luxemburgisch als Zweitsprache lernen.

Engel erklärt, dass das Lala-Trainingsprogramm zum Ziel hatte, die Vorläufer-Fähigkeiten des Lesens bei Kindern spielerisch und auf Luxemburgisch (Schulsprache im Zyklus 1) zu fördern. Die Studie hat unter anderem gezeigt, dass jene Kinder, die daran teilgenommen hatten, signifikant bessere Ergebnisse im deutschen Leseverständnis im ersten Schuljahr hatten als jene, die nicht daran teilgenommen hatten. Und dies galt auch für Kinder mit Schwierigkeiten im Luxemburgischen.

Verfügt zum Beispiel ein Kind über eine tiefgründigere Bedeutung eines Wortes in seiner Muttersprache, muss es sich in der zweiten Sprache nur noch den neuen Namen aneignen.

Pascale Engel de Abreu

Beim zweiten Projekt wurde ein Sprachprogramm, genannt Molly, entwickelt, das gezielt die Muttersprache Portugiesisch sprechender Kinder fördert. Die Resultate zeigten auf, dass die portugiesische Sprache bei den Schülern verbessert werden konnte, ohne Luxemburgisch oder Deutsch zu beeinträchtigen. Die Kinder hatten sogar ihr luxemburgisches rezeptives Vokabular und phonologische Bewusstheit signifikant dadurch gestärkt.

Die Bedeutung der Muttersprache sollte nicht unterschätzt werden, betont Engel. Kinder, die ihre Muttersprache gut beherrschen, haben weniger Schwierigkeiten, andere Sprachen zu lernen, auch wenn diese, wie beispielsweise das Deutsche oder Luxemburgische vom Portugiesischen, weiter entfernt liegen.

Engel nimmt einen Stift und zeichnet einen Eisberg mit zwei Spitzen auf ein Blatt Papier. Dies stellt eine bilinguale Person dar. Drei Viertel des Eisbergs sind unter Wasser. Engel erklärt: „Das ist die Basis vom Sprachenlernen, und die gilt als unabhängig von einer spezifischen Sprache und kann demnach sprachübergreifend angewandt werden. Die sichtbaren Spitzen des Eisbergs sind die sprachgebundenen Merkmale wie zum Beispiel die Aussprache der Wörter einer bestimmten Sprache. Verfügt zum Beispiel ein Kind über eine tiefgründigere Bedeutung eines Wortes in seiner Muttersprache, muss es sich in der zweiten Sprache nur noch den neuen Namen aneignen. Kennt das Kind zum Beispiel das Konzept ‚Ente’ in der Muttersprache, muss es nur noch die Aussprache dieses Wortes in der Fremdsprache lernen. Hat das Kind allerdings keine solide Basis in der Muttersprache, muss es auch die tiefgründige Bedeutung eines Wortes in der jeweiligen Fremdsprache noch aufbauen.“ Und das sei bedeutend schwieriger.


Sprachförderung während der Coronaferien

Pascale Engel de Abreu wurde angesichts der Coronaferien von vielen Lehrern angesprochen. Kurzerhand entschied die Entwicklungspsychologin, Teile ihres Lala-Programms den Eltern, Schülern und Lehrern zur Verfügung zu stellen. Diese Programme laufen sowohl in luxemburgischer als auch in portugiesischer Sprache. Dadurch kann die Muttersprache beziehungsweise Fremdsprache des Kindes spielerisch gefördert werden. Hier geht’s zur Webseite.

DanV
4. April 2020 - 17.52

Sehr interessant. Das heißt also, es gibt tatsächlich Lösungen für diese seit langem bekannte Ungleichheit. Dann sollten sie schnellstmöglich landesweit in den Unterricht eingebaut werden.