Interview„Selbst eine neue Realität würde nichts ändern“: Politologin über  Großbritannien in der Coronakrise 

Interview / „Selbst eine neue Realität würde nichts ändern“: Politologin über  Großbritannien in der Coronakrise 
„End of Freedom“ titelte tags drauf der „Daily Telegraph“: Boris Johnson kündigt im Fernsehen eine dreiwöchige Ausgangssperre an  Foto: AFP/Paul Ellis

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Nach dem Brexit sieht sich London angesichts der Coronavirus-Krise gezwungen, wieder enger an die Kontinentaleuropäer heranzurücken. Im Kampf gegen das Virus wählte Premier Johnson erst den viel kritisierten Weg, eine Herdenimmunität anzustreben und sonst eher auf Business as usual zu machen – hat aber mittlerweile umgeschwenkt. Auch in Großbritannien gilt jetzt eine Ausgangssperre. 

Will Johnson bloß seinen Kopf retten? Liegt der Brexit nun doch auf Eis? Eunice Goes hilft beim Durchblick. Die Politologin ist Associate Professor für Kommunikation an der Richmond American International University in London und spezialisiert auf die Beziehungen Großbritanniens zu Europa.

Tageblatt: Boris Johnson schwenkte in der Coronavirus-Krise unerwartet plötzlich von anfänglicher Laxheit zur jetzigen Ausgangssperre um. Woher dieser Sinneswandel?

Eunice Goes: Der Druck im Land wurde immer größer, auch innerhalb der konservativen Tories. Johnson mag eine starke Ideologie haben, aber er ist eben auch der Premierminister und muss sich neuen Realitäten anpassen. Bei seinem darwinistischen Zugang mit der Herdenimmunität, den übrigens Wissenschaftler empfohlen haben, hat er dann doch Flexibilität gezeigt. Er gab dem wachsenden Druck nach, wählte aber erst einen sanfteren Zugang, indem er auf Freiwilligkeit setzte. Was nicht funktioniert hat. Am Wochenende war das Wetter schön, und anstatt zu Hause zu bleiben, sind die Menschen in Massen nach draußen gegangen – und haben so nicht zur Eindämmung des Coronavirus beigetragen. Demnach: Anreize reichen nicht, es braucht klare Regeln, die der Staat mit all seinem Gewicht umsetzen muss. Das hat Johnson dann getan.

Was denken die Menschen über diesen Kurswechsel? Vertrauen sie Johnson noch?

Einer YouGov-Umfrage vom Dienstag zufolge unterstützen 93 Prozent der Wähler Johnsons Strategie. Aber das ist normal: In Zeiten nationaler Krisen versammeln sich die Menschen hinter jenen, die sie durch diese Krisen führen. Und Johnson wirkt nicht autoritär, sondern kommt rüber, als wolle er den Menschen ein freies Leben ermöglichen. Dazu war der Premier sehr kollegial in seinem Zugang und hat andere Minister in die erste Reihe gelassen.

Ich glaube eher, dass selbst eine völlig neue Realität nichts an der Haltung der Tories ändern würde

Am Wochenende hat Frankreich mit der Schließung der Grenze gedroht, sollte die britische Regierung keine Maßnahmen im Kampf gegen das Coronavirus ergreifen. Hat diese Drohung Wirkung gezeigt? Immerhin kommen 30 Prozent der im Vereinigten Königreich konsumierten Nahrungsmittel aus der EU.

Ja, diese Drohung hat eine Rolle gespielt beim Kurswechsel. In der Versorgung mit Nahrungsmitteln, aber auch Medikamenten ist das Königreich stark von der EU abhängig.

Wird sich London seiner Abhängigkeit von Europa noch einmal bewusst? Kann das eine Chance sein für engere künftige Beziehungen mit der EU?

Ich denke nicht, zumindest nicht unter dieser Regierung. Johnson will weiterhin ein Ende der Übergangsphase am 31. Dezember. Dann sollen die Verhandlungen mit der EU vorbei sein. Die Regierung ist nicht von ihrem harten Brexit-Kurs abgerückt, für die konservative Partei ist das ein ideologischer Standpunkt. Zwar sind einige führende EU-Politiker an Covid-19 erkrankt und andere haben Wichtigeres zu tun, als mit London zu verhandeln, aber Johnsons Regierung wird ihre Haltung dazu nicht ändern: Es wird unter dieser Regierung keine engere Bindung an die EU geben. Es sei denn, die wirtschaftlichen Folgen der Coronavirus-Krise wären dermaßen dramatisch, dass die Regierung doch noch begreift, wie wichtig gute Beziehungen zu Europa sind. Aber ich glaube eher, dass selbst eine völlig neue Realität nichts an der Haltung der Tories ändern würde.

Das britische Gesundheitswesen NHS ist stark von Ärzten und Pflegekräften aus dem EU-Ausland abhängig. Nun rufen viele Staaten ihre Bürger zur Rückkehr auf. Ist das ein Problem in Großbritannien?

Viele spanische, polnische und auch portugiesische Pflegekräfte haben das Land schon vor der Pandemie verlassen. Der Brexit hat sehr viele Unklarheiten für EU-Bürger im Vereinigten Königreich geschaffen. So war ein Plan der Regierung, EU-Migranten für den Zugang zum britischen Gesundheitssystem bezahlen zu lassen. Jährlich 600 Pfund sollte das kosten, 750 Euro. Eine Krankenschwester aus einem EU-Land hätte demnach – sollte das Vorhaben Gesetz werden und es keine Ausnahmen geben – eine Extrazahlung leisten müssen, um Zugang zu dem System zu haben, in dem sie arbeitet. Das hat den britischen Arbeitsmarkt besonders für Pflege- und Gesundheitspersonal nicht attraktiver gemacht.