BergkarabachSchmerzen einer Kapitulation – Armenien und der verlorene Krieg gegen Aserbaidschan

Bergkarabach / Schmerzen einer Kapitulation – Armenien und der verlorene Krieg gegen Aserbaidschan
Große Verzweiflung: Armenier vor dem Parlament kurz nach dem Bekanntwerden des Friedensvertrages  Foto: AFP/Karen Minasyan

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Für viele Armenier ist der Friedensvertrag mit Aserbaidschan eine schmerzhafte Kapitulation. In Jerewan wird gegen den Premier demonstriert. Aber die Gesellschaft ist gespalten, nicht alle sehen bei Paschinyan die Schuld – und befürchten eine Rückkehr der „inneren Feinde“.

In der Nacht von Montag auf Dienstag reißt ein Facebook-Post eine ganze Nation nicht nur aus dem Schlaf. Die Worte, die Armeniens Premier um zwölf Minuten vor zwei online hinterlässt, reißen Armenien auch aus all seinen Träumen, lassen alle Hoffnungen platzen. Nikol Paschinyan hat soeben bekannt gegeben, in einen „unglaublich schmerzhaften“ Friedensvertrag mit Aserbaidschan eingewilligt zu haben. Es ist die Ankündigung einer Kapitulation – im Krieg gegen den Erzfeind, auf Facebook mitgeteilt, mitten in der Nacht, nach sechs Wochen äußerst verlustreicher Kämpfe um Bergkarabach.

„Liebe Landsleute, Schwestern und Brüder“, schreibt Paschinyan, „ich persönlich habe eine sehr schwere Entscheidung für mich und uns alle getroffen. Ich habe eine Erklärung zur Beendigung des Karabach-Krieges mit dem russischen und dem aserbaidschanischen Präsidenten ab 01.00 Uhr unterzeichnet.“ Wenig später setzt auf Jerewans Straßen ein Hupkonzert ein. Im Autokorso oder zu Fuß strömen wütende und enttäuschte Menschen zum Platz der Republik im Herzen Jerewans.

Eine lange, schmerzhafte Nacht

Für Armeniens Hauptstadt wird es eine lange, schmerzhafte Nacht, in deren Verlauf Demonstranten das Parlament stürmen, seinen Sprecher krankenhausreif prügeln und im Amtssitz des Premiers wüten. Am Morgen darauf wirkt das Land ratlos. Noch dazu wird deutlich, wie geteilt die Nation auch zwei Jahre nach der friedlichen Revolution immer noch ist. Damals war Paschinyan, von einer Welle der Euphorie in der Bevölkerung getragen, gegen die alten, als korrupt angesehenen und als „innerer Feind“ bezeichneten Eliten an die Macht gekommen. Und jetzt so ein Friedensschluss, den sich nach sechs Wochen blutiger Kämpfe eigentlich alle herbeigesehnt hatten. Nur nicht so. Die Armenier haben gefühlt ganz Bergkarabach verloren, und noch mehr.

Das eingezeichnete Gebiet ist das der Republik Bergkarabach – mit dem Friedensvertrag muss Armenien Gebiete räumen 
Das eingezeichnete Gebiet ist das der Republik Bergkarabach – mit dem Friedensvertrag muss Armenien Gebiete räumen  Grafik: Tageblatt

Mit der Unterzeichnung des von Moskau vermittelten Waffenstillstands dürften zwar Reste von Arzach erhalten bleiben, wie sich die selbsternannte und von niemandem anerkannte Republik auf dem Gebiet Aserbaidschans nennt, um die jetzt diese unheilvollen Kämpfe zwischen den verfeindeten Nachbarstaaten tobten. Über einen künftigen Status, etwa eine Unabhängigkeit, herrscht nach wie vor Unklarheit, auch die anderen Punkte des Dokumentes sind schwere Schläge.

Die saßen während des Krieges alle bequem daheim und waren zu feige, um an die Front zu gehen

Studentin Mari regt sich über die Proteste gegen Armeniens Premier auf

Die Karabach-Armenier verlieren das eben erst von aserbaidschanischen Truppen eingenommene Shushi jetzt auch dauerhaft, die strategisch wie symbolisch wichtige Stadt wird bald wieder ihren aserbaidschanischen Namen Shusha tragen. Alle von Armenien seit dem Ende des gewonnenen Krieges 1994 besetzten aserbaidschanischen Provinzen müssen geräumt werden; auch jene Gebiete zwischen Bergkarabach und der Republik Armenien, die aus Sicherheitsgründen und wegen der Landverbindung wichtig waren. Russische Friedenssoldaten werden diese Verbindungsstraße ebenso wie die übrige Kontaktlinie überwachen, rund 2.000 sollen in der Nacht von Armenien aus aufgebrochen sein.

Vor allem aber soll ein den Süden Armeniens von Ost nach West durchtrennender Korridor Aserbaidschan mit seiner Exklave Nachitschewan und damit mit der Türkei verbinden. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB soll diese Route überwachen. Niemand weiß bislang, wie breit der Korridor werden soll. Armenien fürchtet jetzt einen Gebietsverlust an seiner Grenze zum Iran.

Nichts scheint vergessen, nichts scheint verziehen

In einem Konflikt, in dem sich seit Jahrzehnten Rachegelüst an Rachegelüst reiht, wirken die Armenien auferlegten Zugeständnisse so tiefgreifend, dass ein anhaltender Frieden bereits jetzt unrealistisch erscheint. Seit vielen Jahrzehnten folgt hier auf die Vertreibung des einen jene des anderen, auf die Bombardierung der Zivilbevölkerung des einen jene des anderen. Nichts aus der konfliktgeladenen Geschichte beider Nationen scheint vergessen, nichts verziehen.

Wie schmerzhaft diese Kapitulation ist, darin scheinen sich alle Armenier einig zu sein. Uneinig aber sind sie sich darin, wer die Schuld an dieser für die ganze Nation desaströsen Entwicklung trägt. Die Nervosität in Jerewan ist groß in jenen Stunden, die Verwirrung ebenso. Schnell machen Gerüchte eines Coups die Runde. Es heißt, das Militär habe die Macht an sich gerissen. Nichts davon bestätigt sich. Andere sprechen von „gesteuerten“ Protesten. Nichts davon lässt sich überprüfen.

Nach den nächtlichen Protesten bewachen Polizisten die Regierungsgebäude in Jerewan
Nach den nächtlichen Protesten bewachen Polizisten die Regierungsgebäude in Jerewan Foto: AFP/Karen Minasyan

Mari, Mitte zwanzig, regt sich am Telefon über die Protestierenden auf. Nahezu ausschließlich junge Männer unter 45 hätten in dieser Nacht vor dem Parlament gegen Paschinyan protestiert, da dieser mit dem Friedensvertrag „ihr Land geopfert“ habe. Dabei, sagt die Studentin, „saßen die alle während des Krieges bequem daheim und waren zu feige, um an die Front zu gehen“. Das sei der „alte korrupte Teil der Bevölkerung“, der nur auf diesen Moment gewartet habe, um Paschinyan anzugreifen.

Auch die 40-jährige Sona, die im Dienstleistungssektor arbeitet, hält weiter zu Paschinyan, dem Mann, der endlich aufräumen sollte mit den „korrupten alten Eliten“. Jene, die jetzt demonstrieren, seien „von den Oligarchen bezahlt“. Unter den Protestierenden seien aber auch solche gewesen, erzählt Sona, die in dem sechswöchigen Krieg Familienmitglieder oder Freunde verloren haben. Die Wut dieser Menschen versteht Sona. Mit diesem Deal, der Armenien alles nehme, gebe es auch nichts mehr, was den Tod der vielen jungen Menschen tröstlicher erscheinen lassen könnte.

Trauernde Angehörige gibt es viele in Armenien. Jeder scheint jemanden zu kennen, der im Krieg verletzt wurde oder gefallen ist. In den vergangenen Wochen hoben Bagger auf dem Yerablur-Militärfriedhof an den Hängen über Jerewan im Akkord neue Gräber aus. Das Land zählt offiziell mehr als 1.200 tote Soldaten und Freiwillige, doch mehrere tausend gelten als vermisst. Viele der Freiwilligen zogen kaum ausgebildet und ungenügend ausgerüstet in einen Krieg gegen eine moderne aserbaidschanische Armee, die von der Türkei unterstützt wurde und auf deren Seite syrische Dschihadisten kämpften. Den hohen Blutzoll lasteten zuletzt immer mehr Armenier Paschinyan an, der mehrfach auf Facebook zum freiwilligen Frontdienst aufgerufen hatte.

„Ich verstehe gar nichts mehr“, sagt die 40-jährige Sona am Dienstagmorgen und rät zur Geduld und zur Ruhe. In Jerewan denken nicht alle so. Alex und seine Freunde wollen bereits in der Nacht auf Dienstag nicht mehr geduldig sein. Sie brechen gleich nach der Ankündigung des Friedensschlusses ins Zentrum von Jerewan auf. Auch sie sind wie Sona um die 40 und beruflich erfolgreich. Paschinyan ist für sie ein „Verräter“, er müsse sofort zurücktreten. Sie erhoffen sich, dass Russlands Präsident Wladimir Putin, der nicht als Freund Paschinyans gilt, mit einem anderen armenischen Premier Aserbaidschan zurück an den Verhandlungstisch drängen könnte. Am Dienstagmittag zieht es sie wieder dorthin, wieder werden sie Paschinyan einen „Verräter“ nennen und seinen Rücktritt fordern. Der Premier selbst tritt nicht vor die Menge, spricht bislang auch nicht im Fernsehen. Auf Facebook schreibt er am Dienstag, „natürlich“ weiter in Armenien zu sein, er werde einfach seine Arbeit erledigen.

Moskau schaut erst zu, diktiert dann das Ende

Derweil wurde Armeniens Präsident Armen Sarkissyan wie seine Mitbürger offensichtlich überrascht von der Vereinbarung. Er habe nur aus den Medien darüber erfahren. „Es gab leider keine Konsultationen oder Diskussionen mit mir über das Dokument.“ Jeder Schritt, jede Maßnahme und insbesondere die Unterzeichnung eines so wichtigen Dokuments sollten jedoch Gegenstand umfassender Diskussionen sein, sagte Sarkissyan. An diese juristische Hoffnung krallen sich auch Juristen in Jerewan. Die armenische Verfassung sehe bei territorialen Angelegenheiten ein Referendum vor, heißt es. Der geplante Korridor von Aserbaidschan nach Nachitschewan soll durch armenisches Staatsgebiet führen, was durchaus eine territoriale Frage wäre.

Während Armenien unter Schock steht und sich gesellschaftliche Risse auftun, wurde der Deal in Baku gefeiert. Aserbaidschans autokratischer Präsident Ilham Alijew präsentiert sich als Sieger. Der türkische Präsident Recep Tayip Erdogan hat mit seiner offensiv vorgetragenen Unterstützung Aserbaidschans im Südkaukasus an Einfluss gewonnen. Doch die Nachkriegsordnung wird Moskau diktieren, auf das Armenien als Schutzmacht hoffte, das aber lange eher teilnahmslos zusah und seinen Bündnispartner jetzt offenkundig fallen ließ.

Was solle sie zu alledem schon sagen, fragt Sona zurück. Die fehlende internationale Unterstützung, das Gefühl, bloß ein Spielball der Mächtigen zu sein, der verlorene Krieg und die bitteren Konzessionen, die Spaltung in Armeniens Gesellschaft – „all das ist einfach nur eine Schande“.

* alle Namen wurden auf Wunsch der Gesprächspartner geändert