Tarierung der Demokratie-Waagschale Polizeiminister Henri Kox über den Einsatz am vergangenen Wochenende 

Tarierung der Demokratie-Waagschale  / Polizeiminister Henri Kox über den Einsatz am vergangenen Wochenende 
Polizisten und Demonstranten stehen sich am vergangenen Wochenende auf der Avenue de la Porte Neuve gegenüber  Foto: Editpress/Julien Garroy

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Eiskalter Versuch, den Staat in Verlegenheit zu bringen? Oder ein kreativer Akt zivilen Ungehorsams? Obwohl Stadtverwaltung und Polizei der Corona-Demo am vergangenen Samstag (18.12.) erneut eine „Protestzone“ am Glacis zugewiesen haben, ist um 14 Uhr eine größere Menge Demonstranten am Luxemburger Hauptbahnhof aufgetaucht. Henri Kox, Minister für Innere Sicherheit, über die Strategie der Polizei und die Herausforderung, vor die die Corona-Demos die Behörden stellen. 

Mit Sprechchören, Böllern und Polizeigeleit ziehen die Demonstranten vom Hauptbahnhof die Avenue de la Liberté hinab, um über Boulevard Royal und „Stäreplaz“ schlussendlich zum Glacis zu stoßen. Auf ihrem Weg legten sie mehrere Pausen ein und machten Sitzproteste. An der „Gëlle Fra“ und am Royal Hamilius kommt es zu kurzen Momenten der Anspannung, weil nicht klar ist, ob die Demonstranten nicht doch die Weihnachtsmärkte in der Nähe stürmen wollen. Ob es an der Polizeipräsenz oder etwas anderem liegt – letzten Endes ziehen die Menschen weiter.

Sowohl Demonstranten als auch Polizei agierten am vergangenen Samstag passiver als am Samstag zuvor. Die Beamten tolerierten die Sitzproteste mitten auf viel befahrenen Straßen mehr oder weniger. Der belgische Wasserwerfer war zwar in der Nähe geparkt – kam jedoch nicht zum Einsatz. Schließlich verlief der Protest friedlich, verletzt wurden nur die Nerven einiger Autofahrer, die wegen der Proteste im Stau standen. Aber: Erstmals hatten sich die Corona-Protestler von vornherein nicht an die von den Behörden vorgegebenen Regeln gehalten.

Dass sich auch am Hauptbahnhof Demonstranten versammeln würden, wusste die Polizei erst ab 11.30 Uhr, sagte Polizeiminister Henri Kox („déi gréng“) am Montag im Gespräch mit dem Tageblatt. „Wir sind ja nur über die Kanäle informiert, die öffentlich zugänglich sind.“ Im Gegenzug sei die Polizei so aufgestellt gewesen, dass sie flexibel und schnell handeln konnte. Neben dem Glacis seien auch in der Innenstadt Beamte unterwegs gewesen, da nicht bekannt war, ob dort nicht auch noch Proteste auftreten würden. 

Verstoß gegen „kommunales Reglement“

Es gebe kein Gesetz, dass der Polizei erlaubt, ein Demonstrationsverbot auszusprechen, sagt Kox. Die Demonstranten, die abseits des Korridors protestierten, verstießen aber gegen ein kommunales Reglement. „Um das durchzusetzen, hat die Bürgermeisterin die Polizei angeordnet und requiriert.“ In dem entsprechenden Bescheid aus dem Rathaus stehe auch, dass die „Anwendung von Gewalt“ möglich sei. „Aber es ist weder die Bürgermeisterin noch der Polizeiminister, der entscheidet, ob Gewalt eingesetzt wird“, sagt Kox. „Das ist Abwägung der Polizei selbst – sie entscheidet nach Gesichtspunkten wie dem der öffentlichen Ordnung und der Gefahr für Dritte.“

Der Grünen-Politiker Henri Kox (60) ist seit Juli 2020 Minister für Innere Sicherheit 
Der Grünen-Politiker Henri Kox (60) ist seit Juli 2020 Minister für Innere Sicherheit  Foto: Editpress-Archiv/Julien Garroy

Das Polizeiaufgebot war so groß wie am Samstag zuvor, sagt der Grünen-Politiker. „Ausländische Polizisten wurden auch abgestellt. Wir hatten wieder ein Abkommen mit Belgien, auch Wasserwerfer waren wieder da.“ Der Minister betont jedoch die Verschiedenheit der Proteste an den vergangenen drei Samstagen. „Die Polizei hat sich in den vergangenen drei Wochenenden unterschiedlichen Situationen ausgesetzt gefühlt, die jeweils unterschiedliche Ordnungen hatten“, sagt Kox. „Es ist die Entscheidung der Polizei, so zu agieren, wie es die Begebenheiten erfordern.“ Ziel sei vor allem, dass Dritte nicht zu Schaden kommen. 

Die bestmögliche Taktik sei demnach nach Einschätzung der Polizei gewesen, die Demonstranten zu der ausgewiesenen Zone zu führen, ohne massive Gewalt einzusetzen. Das hätte am Bahnhof oder anderswo zu zusätzlichen Konflikten führen können. „Auch einen Wasserwerfer einzusetzen, ist Abwägungssache“, sagt Kox. „Das hätte vielleicht zu Gewaltexzessen geführt, die nach Einschätzung der Polizei nicht proportional gewesen wären.“ Seiner Ansicht nach habe die Polizei das Geschehen „gut unter Kontrolle“ gehabt. „In dem Moment, als Demonstranten versucht haben, in die Innenstadt zu gehen, war Stopp“, sagt Kox. Auch dort hätte ein Wasserwerfer eingesetzt werden können, aber die Polizei habe darauf verzichtet. „Ich will nicht sagen, dass das beim nächsten Mal wieder so gehen könnte“, sagt Kox.

„Wir müssen die Menschen erreichen“

Werden nicht-angemeldete Proteste in Zukunft nicht mehr toleriert? Henri Kox erinnert daran, dass jahrhundertelang für das Recht auf Demonstrationen gekämpft wurde. „Wir müssen die Menschen, die da stören, so weit wie möglich eingrenzen – aber mit den Gesetzen, die uns zur Verfügung stehen“, sagt der 60-Jährige. Es gehe hier um den demokratischen Rechtsstaat, Meinungsfreiheit und Demonstrationsrecht. „Das sind Abwägungen, die hier in die Waagschale geworfen werden müssen.“ Proteste wie die in Luxemburg gebe es auch in Deutschland und Frankreich. „Wir müssen die Menschen erreichen“, sagt Kox. Dass Menschen Straßen besetzen, habe es auch in Luxemburg schon gegeben. „Ich habe gegen Cattenom demonstriert und da sind wir auch über Straßen marschiert.“ Das seien damals aber angemeldete Demonstrationen gewesen, meint sich Kox zu erinnern.

Dennoch haben die Behörden es bei den Corona-Protesten mit einem neuen Phänomen zu tun. Kox: „Wir haben keinen Partner, mit dem wir sprechen können – und das bereitet der Polizei Kopfzerbrechen.“ Die polnische Gewerkschaft Solidarność, die im Oktober auf dem Kirchberg protestiert hatte, habe 2.000 Menschen angekündigt – und auch, dass es Unterwanderungen durch Rechtsextreme gebe. „Aber schon Wochen davor gab es konstruktive Gespräche mit Solidarność“, sagt Kox. Im Nachhinein seien nur 700 Menschen gekommen, die friedlich demonstrierten und sich an den ausgewiesenen Korridor hielten. „Obwohl die Polizei massiv ausgerüstet war: Es bestand ein Dialog“, sagt Kox. Gleiches gelte für die Fahrradfahrer-Demo oder die Youth-for-Climate-Proteste. „Es gab es immer einen Ansprechpartner.“ Bei den Corona-Demos gebe es jedoch kein Gegenüber. „Es ist sehr diffus“, sagt Kox. Das sehe man auch im Ausland: „Man hat es mit Phänomenen zu tun, die neu sind. Nicht nur aus Polizeisicht, sondern auch aus Regierungssicht.“

Diffus seien auch die Internetforen, in denen kommuniziert wird. „Es sind Phänomene, bei denen wir uns als demokratische Staaten neu aufstellen müssen, um dem mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken – ohne das Pendel ganz nach rechts oder ganz nach links ausschwenken zu lassen“, sagt Kox. 

Dass Polizisten bei den Protestierenden die Identität feststellen dürfen, sei bereits eine Art Freiheitsentzug. Durch die Identitätskontrollen könnten aber jetzt noch Nachverfolgungen gemacht werden. So sei ein Protestler identifiziert worden, der schon bei der Demonstration vor einer Woche aufgefallen war.

Kox sieht die größte Herausforderung in der Radikalisierung der Impfgegner. Dabei sei die Polizei Teil der Lösung – aber nicht der einzige. Für die nächsten Proteste arbeite die Polizei bereits an einer Gefahrenabschätzung. Entsprechend dieser werde sich die Polizei dann aufstellen, sagt Kox.