Alain spannt den Bogen / Polizei stürmt das Bayreuther Festspielhaus
Ein Jude wird auf offener Straße verprügelt, ein Holländer läuft Amok und schießt in die Menschenmenge. Es ging hoch her bei den diesjährigen Wagner-Festspielen in Bayreuth, bei denen die Neuinszenierung von „Der Fliegende Holländer“ im Mittelpunkt stand.
Der russische Regisseur und Bühnenbildner Dmitri Tscherniakov erzählt die Geschichte des Fliegenden Holländers als Thriller und erfindet eine ganz neue Geschichte. Während der Ouvertüre erfährt der Zuschauer, dass die Mutter des Holländers die Geliebte Dalands war und dass sie, nachdem dieser sie fallengelassen hatte und sie von der Dorfgemeinschaft ausgestoßen wurde, sich erhängt hat.
Ihr Sohn hat das alles mitangesehen und schwört Rache. Jahre später kommt er zurück, schleicht sich in die Familie von Daland ein, verliebt sich in das Teenie-Girl Senta, schießt zum Schluss wahllos in die Menschenmenge und wird daraufhin von Mary, der Amme und bei Tscherniakov Ehefrau Dalands, mit einem Gewehr erschossen.
Dies alles hat nicht mehr viel mit dem Originalstoff zu tun, wird aber trotz einiger Logik-Schwächen konsequent und recht unterhaltsam erzählt, ohne dabei allerdings einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen.
Den hinterlassen aber die Dirigentin Oksana Lyniv, die mit Meisterhand das Festspielorchester zum Brodeln und dabei die Partitur, insbesondere in den Mittelstimmen, zum Leuchten bringt, sowie die lettische Sopranistin Asmik Grigorian, die mit einer fantastischen Stimme und einer sensationellen schauspielerischen Leistung die wohl beste Senta seit Lisbeth Balslev in den frühen 80er Jahren darstellt.
Frauenpower
Georg Zeppenfeld und Eric Cuttler als Daland bzw. Erik bieten ebenfalls hervorragende gesangliche Leistungen, genauso wie Marina Prudenskaya in der eher undankbaren Rolle der Marie. Attila Glaser bleibt als Steuermann schwach und John Lundgren in der Titelrolle hat in dieser Vorstellung (21. August) mit einer stimmlichen Indisposition zu kämpfen, die es ihm nicht ermöglicht, seine gewohnt souveräne Leistung abzurufen.
Begonnen hatte unser Festspielbesuch am 19. August mit der dritten Aufführung einer halbszenischen „Walküre“, bei der der einst für seine Malaktionen mit tierischem Blut und Gedärmen berüchtigte Wiener Aktionskünstler Hermann Nitsch riesige Leinwände von seinen Malassistenten mit Farbe beschütten und bewerfen ließ. Dies hatte am Ende dann nur dekorativen Wert und bereicherte die Musik wenig.
Trotz allem war die Verbindung der beiden Künste ein interessantes und sicher nicht misslungenes Experiment. Einhelligen Jubel gab es für Publikumsliebling Klaus Florian Vogt und Lise Davidsen als Siegmund und Sieglinde, wenngleich man bei beiden einige Abstriche machen muss. Vogts Gesang ist einfach zu schön und perfekt für diese Rolle, sein edler, ja fast engelsartiger Siegmund ist als Person kaum glaubhaft. Lise Davidsen ist dagegen eine sehr dynamische, persönlichkeitsstarke Sieglinde, deren beeindruckende Höhe leider manchmal noch etwas zu scharf klingt.
Für den kurz vor der Premiere abgesprungenen Günther Groissböck hatte Alleskönner Thomasz Konieczny den Wotan übernommen und begeisterte mit seiner heldischen und metallischen Stimme, die keine Grenzen zu kennen schien. Catherine Foster war ebenfalls eingesprungen und ersetzte bei dieser letzten „Walküre“ die erkrankte Iréne Theorin als Brünnhilde mit einer soliden, wenn auch nicht überragenden Leistung.
Makellos dagegen Christa Mayer als Fricka und der stimmgewaltige Dmitry Belessolskiy als Hunding. Pietari Inkinen musste einige Buhs einstecken. In der Tat besitzt sein Dirigat noch nicht Festspielniveau. Es gibt einige wunderbare Passagen, zudem hält er das Klangbild recht transparent, aber seiner Interpretation fehlt es an Dynamik, großem Atem und Innenspannung. Da ist noch sehr viel zu tun bis 2022, wo Inkinen den ganzen Ring dirigieren soll.
Abschied von Koskys Meistersingern
Die wohl beiden beliebtesten Inszenierungen der letzten Jahrzehnte sind Tobias Kratzers „Tannhäuser“ und Barrie Koskys „Meistersinger von Nürnberg“, die heuer zum letzten Mal läuft. Und deshalb gaben wohl alle Mitwirkenden in der allerletzten Vorstellung vom 24. August ihr Bestes. Allen voran Michael Volle, der einen atemberaubenden Sachs sang und spielte. Das war absolutes Weltniveau!
Der viel beschäftigte Klaus Florian Vogt war ein betörend schön singender Stolzing und Johannes Martin Kränzle, der alle vorherigen Vorstellungen krankheitsbedingt an Bo Skovhus und Martin Gantner abgegeben hatte, ließ es sich nicht nehmen, bei dieser Dernière „seinen“ Beckmesser noch einmal mit toller Stimme und bester Spiellust auf die Bühne zu bringen.
Und auf überdurchschnittlichen Niveau geht es auch weiter: Camilla Nylund als Eva, Daniel Behle als David, Georg Zeppenfeld als Pogner, Christa Mayer als Magdalena und Werner van Mechhelen veredelten diese letzte Vorstellung der Kosky-„Meistersinger“. Großen Jubel gab es dann auch am Schluss für den Dirigenten Philippe Jordan, der die Musik mit einer Leichtigkeit und Virtuosität wie kaum ein anderer zu dirigieren und gestalten wusste. Und Barrie Kosky, der bei der letzten Vorstellung anwesend war, wurde lautstark bejubelt.
Wagner und seine Meistersinger vor dem Nürnberger Prozess; Kosky spricht die Judenfrage sehr deutlich an, doch lässt am Ende das Volk entscheiden. Eine subtile und pointierte Aufarbeitung eines ernsten und tragischen Stoffes.
Kratzers „Tannhäuser“ ist extrem witzig, vor allem in den beiden ersten beiden Akten. Und diesen zweiten Akt, bei dem Transvestit-Künstler Le Gateau Chocolat (in diesem Jahr dargestellt von Kyle Patrick) und Blechtrommel-Oskar (Manni Laudenbach) ins Festspielhaus einbrechen und einen Polizeieinsatz auf der Bühne auslösen, wo sich Venus als Vierter Edelknabe unter die Wartburg-Gesellschaft mischt, den muss man einfach gesehen haben. Videokunst und Bühnenaktion gehen hierbei Hand in Hand und ergänzen sich auf schönste Weise.
Kratzer gelingt das Kunststück, Witz und Tragik (2. Akt) auf plausible Weise ineinander übergehen zu lassen, ohne dass es dabei zu einem stilistischen Bruch kommt. Der mittlerweile fast 60-jährige Stephen Gould ist ein immer noch beeindruckender Tannhäuser mit schier unerschöpflichen Kraftreserven. Schöner und edler als Markus Eiche das tut, kann man den Wolfram von Eschenbach wohl nicht singen. Lise Davidsen begeistert trotz der bekannten Schärfen als Elisabeth und Ekaterina Gubanova ist eine herausragende und spielfreudige Venus. Nach dem Gergiev-Flop von 2020 hatte man wieder auf den bewährten Axel Kober zurückgegriffen, der auch ohne Starstatut einen phänomenalen „Tannhäuser“ dirigierte und am Ende unserer Vorstellung (23. August) vom Publikum mit Applaus regelrecht überschüttet wurde.
Bei den beiden Konzerten mit Andris Nelsons (22. und 25. August), die auf der Bühne des Festspielhauses stattfanden, war die erste Konzerthälfte jeweils identisch. Hier stand der komplette erste Akt der Walküre auf dem Programm. Nelsons ist ein geborener Wagner-Dirigent und seine Kunst des Gestaltens und des Atmens verweist in Sachen Walküre den jungen Pietari Inkinen in die dritte Reihe. Welch ein Unterschied an Qualität!
Klaus Florian Vogt (ja, wieder er) sang unter Nelsons dann auch weitaus besser und lebendiger; seine Sieglinde, die Bayreuth-Debütantin Christine Goerke, sang gut, hinterließ aber keinen bleibenden Eindruck, während Günther Groissböcks Hunding Weltklasse war. Im ersten Konzert folgten zudem Auszüge aus Lohengrin und Parsifal, bei denen Klaus Florian Vogt noch einmal in seinen Paraderollen glänzen konnte.
Der zweite und letzte Festspielabend ging dann mit dem Walkürenritt, orchestralen Auszügen aus der „Götterdämmerung“ und Brünnhildes Schlussgesang zu Ende. Auch hier konnte Christine Goerke nicht wirklich mit den vielen großen Bayreuther Brünnhilde-Darstellerinnen mithalten. Nelsons Dirigat und das Spiel des Festspielorchesters dagegen waren einfach berauschend.
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