Erstmals seit der russischen Invasion in der Ukraine hat Polen Drohnen abgeschossen, die in seinen Luftraum eingedrungen sind. Laut Angaben des polnischen Heeres gelang es in der Nacht zum Donnerstag, drei von insgesamt wohl 19 Drohnen abzuschießen.
An der groß angelegten Aktion der polnischen Luftwaffe waren offenbar auch holländische und ein italienischer NATO-Jet beteiligt. Zudem wurde ein in Polen stationiertes „Patriot“-Raketensystem der deutschen Bundeswehr in Alarmbereitschaft versetzt.
Die Drohnen sind mutmaßlich russischer Herkunft, allerdings überquerten nur fünf oder sechs die polnisch-ukrainische Grenze. Der Rest stammte direkt vom östlichen Nachbarland Belarus, in dem kein Krieg herrscht. Das Verhältnis zwischen Polen und Belarus hat sich nach den dortigen Protesten vom August 2020 gegen den Diktator Alexander Lukaschenko sehr abgekühlt. Polen hat Zehntausende belarussische politische Flüchtlinge aufgenommen und unterstützt die demokratische belorussische Exilregierung, die teils in Warschau eigene Ministerien unterhält.
Zum ersten Mal kam ein erheblicher Teil der Drohnen direkt aus Belarus
Offiziell wurde Belarus bisher weder von Premierminister Donald Tusk noch vom rechtsnationalen Staatspräsidenten Karol Nawrocki des Drohnenangriffs bezichtigt. Tusk indes sagte nach einer frühmorgendlichen Dringlichkeitssitzung des Kabinetts: „Dies ist das erste Mal in diesem Krieg, dass sie nicht aufgrund von Fehlern oder kleineren russischen Provokationen aus der Ukraine kamen – zum ersten Mal kam ein erheblicher Teil der Drohnen direkt aus Belarus.“
Artikel 4 des NATO-Vertrags: Was steckt dahinter?
Gemäß Artikel 4 kann jeder Mitgliedstaat im Fall einer Bedrohung seiner „territorialen Integrität, politischen Unabhängigkeit oder Sicherheit“ die Einberufung einer Sitzung des Nordatlantikrates in Brüssel verlangen. Auf der Sitzung des NATO-Rats muss das Thema besprochen werden – das kann zu gemeinsamen Beschlüssen oder Maßnahmen führen, muss es aber nicht. Der mögliche Anwendungsbereich von Artikel 4 ist somit weniger klar als das in Artikel 5 des Bündnisvertrags fixierte Beistandsversprechen für den Fall eines „bewaffneten Angriffs“ auf ein oder mehrere NATO-Länder. Laut NATO wurde Artikel 4 vor diesem Mittwoch in der mehr als 75-jährigen Geschichte der Allianz siebenmal aktiviert, fünfmal von der Türkei. Dabei ging es in den Jahren zwischen 2003 und 2020 jeweils um Entwicklungen in den Nachbarländern Irak und Syrien. 2014 aktivierte Polen im Zusammenhang mit der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim Artikel 4. Nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 kamen auf Antrag mehrerer osteuropäischer Länder die NATO-Gesandten der Mitgliedsländer zu Konsultationen unter Artikel 4 zusammen. (AFP)
Auf den bis Redaktionsschluss neun von 19 vor allem auf Feldern aufgefundenen abgeschossenen oder abgestürzten Drohnen waren oft kyrillische Schriftzeichen zu finden. Doch nicht nur Russland, auch Belarus benutzt das Russische. „Wir haben schon etwas Angst“, erklärte ein Bauer im Dorf Wohyn in der an Belarus und die Ukraine angrenzenden Woiwodschaft Lublin, auf dessen Feld eine solche Drohne gefunden wurde. „Es war ein glücklicher Zufall, dass nichts passiert ist und die Drohne nicht ins Haus eingeschlagen ist“, sagte dessen Vater dem polnischen staatlichen Nachrichtensender TVP Info. „Wir sind schockiert“, fügte er an.
Die Einwohner der drei Woiwodschaften Lublin, Podlachien und Masowien wurden morgens um drei Uhr dazu aufgefordert, in ihren Häusern zu bleiben und sich ruhig zu verhalten. Fünfeinhalb Stunden später widerrief das Innenministerium diese Anordnung. Viele Schulkinder blieben so allerdings dem Unterricht fern.
„Es gibt keinen Grund zu Panik, das Leben wird normal weitergehen“, beruhigte Tusk nach einer Dringlichkeitssitzung der Regierung: „Wir werden die Bürger über alles informieren, was sich am polnischen Himmel und an den Landesgrenzen abspielt“, versprach der Regierungschef und sprach sich gegen die Ausrufung eines Notstands aus. „Das würde nur den Alltag der Bürger erschweren“, sagte Tusk.
Schlecht vorbereitet?
Zuvor hatte Polen vier Flughäfen für mehr als vier Stunden geschlossen. Gewisse Flüge mussten auf Ersatzflughäfen umgeleitet werden. Da sich dies alles in den frühen Morgenstunden abspielte, waren in erster Linie Transportflugzeuge betroffen. Doch auch die wichtigen, über die Flughäfen Rzeszow und Lublin abgewickelten Waffen- und Hilfsgütertransporte über Polen in die Ukraine waren von der Sperrung betroffen. Der kleine Flughafen in Lublin blieb fast den ganzen Mittwoch über geschlossen.
Erst am Mittag meldeten sich erste Kritiker der polnischen Armee zu Wort. Sie bemängelten, dass sich Polen jahrelang für die Abwehr von Raketen gewappnet hätte, aber dabei die viel tiefer und langsamer fliegenden Drohnen aus den Augen verloren hätte. Auch am Donnerstag gelang es, nur rund jede sechste Drohne – laut unterschiedlichen Angaben drei oder vier – abzuschießen. Das offizielle Warschau rief in der gleichen Zeit die NATO gemäß Artikel 4 an. Das Brüsseler Hauptquartier gab dem Ansinnen inzwischen statt. Die Drohnen-Attacke wird dort als beispiellose Eskalation gewertet, worüber man sich nun mit allen NATO-Mitgliedern austauschen will. Seit 1949 wurde Art. 4 siebenmal aktiviert, zuletzt ebenfalls auf Antrag Polens am Tag der vollumfänglichen russischen Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022.
Warschau machte indirekt sehr schnell Russland für die Drohnen-Attacke verantwortlich. Der Kreml jedoch lehnte dies empört ab. Andrei Odesch, der Geschäftsführer der russischen Botschaft in Warschau, sagte gegenüber der russischen staatlichen und somit keineswegs unabhängigen Nachrichtenagentur Ria Nowosti: „Wir halten die Vorwürfe für haltlos. Es wurden keine Beweise dafür vorgelegt, dass die Drohnen russischen Ursprungs sind.“ Der Russe Odesch verwies dabei genüsslich auf einen Zwischenfall mit einer fehlgeleiteten ukrainischen Rakete, die im November 2022 im Grenzgebiet zwei polnische Bauern getötet hatte.
Erst am Mittwochabend bot Moskau den Polen indirekt einen Dialog an und verwies dabei auf einen Großangriff russischer Drohnen und Raketen auf die Westukraine. Laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj wurde dabei die ganze Ukraine mit rund 415 Drohnen, meist iranischer Bauart, sowie mehr als 40 Marschflugkörpern und Raketen attackiert. Nach Angaben aus Kiew überflog kurz vor Mitternacht die erste russische Drohne die Grenze zwischen der Ukraine und Polen.
Ukrainische Kriegsbeobachter weisen indes immer noch darauf hin, dass nur fünf bis sechs russische Drohnen nach Polen weitergeflogen seien. Laut dem polnischen Staatspräsidenten Karol Nawrocki braucht die Armee 48 Stunden Zeit, um den Vorfall auszureden.
De Maart
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